Ressourcen stärken

Ich versuche, gut zu mir zu sein, neue Denkmuster, neue Bewältigungsmechanismen und neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Aber wenn ich diese neuen Ansätze mal spontan wirklich brauche, fällt es mir schwer, nicht in alte Muster zu fallen. Das ist frustrierend und ärgerlich.

Meine Therapeutin hat es mir so erklärt:

Der Verstand funktioniert ähnlich wie ein Verkehrsnetz. Wenn es viel Verkehr in eine Richtung gibt, entsteht zuerst ein Weg, dann eine Straße, dann eine Autobahn. Wenn du gewohnt bist, auf eine bestimmte Weise zu reagieren oder dich zu verhalten, eine bestimmte Art von Gedanken zu denken, dann baust du damit Autobahnen. So nimmt dein Gehirn in jeder Situation den Weg, der am einfachsten und am besten bekannt ist.

Wenn du dein Verhalten oder deine Denkmuster ändern willst, ist es, als ob du dir  einen Weg durch das Unterholz hacken willst. Es ist Arbeit. Und wenn man es einmal geschafft hat, bleibt der Weg nicht frei. Das Gestrüpp schleicht sich wieder ein. Der Weg muss gepflegt werden.

Ich habe Jahrzehnte damit verbracht, die Autobahnen zu bauen, die Straßen zu pflastern, die Lichter aufzustellen und alles so reibungslos wie möglich zu gestalten. Es ist also zu erwarten, dass es eine Weile dauert, neue Straßen für neue Gedanken und neue Muster zu bauen. Wenn Dinge passieren, die mich in unter Druck setzen, ist es, als ob das Gestrüpp schneller wächst und meine Axt schwerer wird. Während nur einen Schritt entfernt die gute alte Autobahn ruft.

Es hat also keinen Sinn, mich darüber zu ärgern, dass es mir schwer fällt, die neuen Muster einzuhalten. Ich kann nur weiter an dem Weg arbeiten. Und jeder Schritt, den ich auf dem neuen Weg mache, bringt mich weiter von der Autobahn weg. Jeder Stein, den ich auf dem neuen Weg lege, macht es dem Gestrüpp schwerer, die Oberhand zu gewinnen.

Das ist eine Arbeit, an der ich dran bleiben muss, wenn es mir gut geht.

Es ist zu einfach, die Dinge schleifen zu lassen, wenn es mir gut geht. Zu denken, dass alles gut läuft und ich aus dem Schneider bin. Aber so funktioniert das nicht, denn die neuen Wege sind noch neu, das Gestrüpp noch dicht, die Autobahnen noch frei. Es wird viele Jahre dauern, bis die Natur die Autobahnen zurückerobert, wenn überhaupt. Und es wird Jahre dauern, bis die neuen Wege bequem und sicher sind. Ich muss also für die Instandhaltung sorgen. Aber wie?

Akzeptieren von Emotionen

Wir fangen mit was schwierigem an. Die Unterdrückung von Gefühlen mag kurzfristig eine Lösung sein, ist aber langfristig en Problem. Das ist nichts Neues. Mich selbst für meine Gefühle zu bestrafen oder zu versuchen, mich anders zu fühlen, macht alles nur noch schlimmer. Auch das ist nichts Neues. Aber wie kann ich meine Gefühle akzeptieren? Sie sogar willkommen heißen?

Für den Fall, dass du das hören musst: deine Gefühle sind berechtigt. Es ist in Ordnung, dich so zu fühlen, wie du fühlst.

Daran ändert keine Rationalisierung deinerseits etwas. Die Frage, ob deine Gefühle angemessen, verhältnismäßig oder begründet sind oder nicht, stellt sich einfach nicht. Du fühlst, was du fühlst, und deine Gefühle sind zunächst erst einmal da.

Vielleicht möchtest du anders fühlen. Du willst vielleicht nicht auf deine Gefühle reagieren. Vielleicht bist du beschämt, frustriert oder schockiert von deinen Gefühlen. Dennoch sind deine Gefühle berechtigt. Sie sind da und sie sind in Ordnung. Du darfst fühlen, was du fühlst.

Ich habe lange gebraucht, um mir zu verzeihen, dass ich immer noch depressive Episoden habe. Mir selbst zu erlauben, über etwas wütend zu sein, das ich verstehe. Mir nicht die Schuld dafür zu geben, dass ich verletzlich bin.

Aber das ist so, so wichtig. Vielleicht das Wichtigste, das ich lernen musste.

Wenn du damit Probleme hast, kannst du es dir ein wenig leichter machen.

Hol dir Hilfe. Sag jemandem, dem du vertraust, was du brauchst.

Viele Leute haben mir, wenn ich traurig war, gesagt, „weine nicht“, und versucht, mir zu helfen. Das hat mich unter Druck gesetzt. Mir war nach Weinen zumute und mir wurde gesagt, ich solle nicht weinen. Für mich ist es hilfreicher, wenn mir jemand einfach ein Taschentuch anbietet. Das sagt: „Ich sorge mich um dich und möchte dir helfen“, anstatt „weine nicht“. Vielleicht ist dir etwas anderes lieber, aber nur du weißt, was dir helfen kann, mit deinen Gefühlen klarzukommen. Sag es jemandem.

Wenn gerade niemand verfügbar ist, sag es dir selbst. Wenn du etwas Greifbares brauchst, besorg dir vielleicht ein Kissen oder ein Kuscheltier und schreib darauf, was du hören willst, wenn du mit der Akzeptanz deiner Gefühle kämpfst. Übe, es dir selbst zu sagen. Wenn du stolz auf dich bist, weil du etwas getan hast, von dem dein Gehirn behauptet, dass es nichts Besonderes ist: Sag dir, dass dein Gefühl berechtigt ist und sei stolz.

  • Wenn du dich lächerlich glücklich fühlst, weil du einen Level in deinem Spiel geschafft hast: Genieß dieses Gefühl.
  • Wenn du traurig bist, weil jemand ein Treffen abgesagt hat: Ja, du darfst traurig sein, auch wenn du das letzte Mal selbst abgesagt hast.
  • Wenn du dich verletzt fühlst, weil jemand deinen Geburtstag vergessen hat: Wenn dich das verletzt, dann verletzt es dich. Das ist in Ordnung.
  • Wenn du wütend bist, weil jemand dich mit dem falschen Namen angesprochen hat: Ja, sei wütend. Es ist berechtigt.

Lass nicht zu, dass die Frage, ob eine bestimmte Emotion angemessen ist, deine Freude schmälert oder deinen Schmerz verkompliziert.

Wenn du deine Gefühle als gültig akzeptierst, wirst du dich besser fühlen, wenn du sie erlebst. Schmerz wird immer noch keinen Spaß machen, aber er bringt wenigstens keine zusätzlichen Schuldgefühle mit.

Übung: Schau dir deine Gefühle an. Zum Beispiel in diesem Moment. Wie fühlst du dich? Gelangweilt? Das ist in Ordnung. Genervt? Okay. Fasziniert? Gut. Aufgeregt? Okay. Traurig? Okay. Wie auch immer du dich gerade fühlst, es ist in Ordnung und richtig.

Emotionen betrachten

Wenn du dir erst einmal erlaubst, zu fühlen, was du fühlst, wird es dir wahrscheinlich leichter fallen, deine Gefühle „auszupacken“. Manchmal werde ich wütend, wenn ich einen dieser heile Welt Familienfilme sehe, weil er mich daran erinnert, dass meine Familie anders ist. Manchmal überkommt mich eine Welle der Verzweiflung, wenn ich einen Liebesroman lese, weil ich immer noch den einen besonderen Menschen finden und heiraten möchte, aber nicht mehr daran glaube, dass das noch passiert. Wenn ich weiß, warum bestimmte Dinge bestimmte Emotionen auslösen, hilft mir das, die Emotionen zu akzeptieren und mit ihnen umzugehen.

Es hilft mir auch, in solchen Situationen aufzupassen, damit ich die aufkommenden Emotionen bemerke, bevor sie zu einem Problem werden.

Wenn ich weiß, was die Ursache meiner Emotionen ist, fällt es mir leichter, die Ursache und nicht den Auslöser zu anzugehen. Ich schreie sozusagen die richtige Person an.

Je nachdem, womit du es zu tun hast, kannst du das allein, mit vertrauten Menschen oder mit professioneller Hilfe in Angriff nehmen. Es ist wie bei Reparaturen zu Hause. Wenn der Wasserhahn tropft, kannst du sehen, ob du einfach etwas festziehen kannst, damit es aufhört. Oder du brauchst jemanden, der dir hilft, die Möbel zu verschieben, um einen besseren Blick zu bekommen. Oder du brauchst eine Klempnerin oder einen  Klempner, wenn es sich um ein größeres Problem handelt. Niemand würde von dir erwarten, dass du selbst die Wand aufbrichst und eine Wasserleitung reparierst. Erwarte bitte auch nicht, dass du ein Trauma, chronische Schmerzen oder eine psychische Erkrankung allein bewältigen kannst. Es ist verantwortungsvoll, sich Hilfe zu holen, wenn du kannst.

Außerdem kannst du auch andere Emotionen untersuchen. Glück, Freude, Stolz. In welchen Situationen wird dir ganz warm ums Herz? Fühlst du dich sicher? Wann fühlt sich dein Herz zum Bersten voll an? Wann fühlst du dich stark? Und was kannst du tun, um diese Gefühle zu verankern, um dich an sie zu erinnern, wenn du dich nicht so glänzend fühlst?

Übung: Erinnere dich an eine Situation, in der du wirklich zufrieden mit dir selbst warst. Tauch in dieses Gefühl ein. Gibt es ein besonderes Wort, eine Geste oder einen Gegenstand, den du damit in Verbindung bringen kannst? Ein Bild aus einem Urlaub? Das Namensschild einer Veranstaltung, auf der du dich willkommen fühlst? Ein Erinnerungsstück an einen Erfolg? Ein albernes Geschenk von einem lieben Menschen? Hol diesen Gegenstand hervor und halt ihn in der Hand, während du dich an die Situation erinnerst. Leg den Gegenstand an einen Ort, an dem du ihn leicht wiederfinden kannst. Oder in Sichtweite, um dich ständig daran erinnern zu können.

Affirmationen verwenden

Affirmationen können von außen und von innen kommen. Affirmationen, die von außen kommen, sind beispielsweise Komplimente. Wie fühlst du dich, wenn jemand etwas wirklich Nettes zu dir sagt? Wenn dir jemand ein Kompliment für dein Outfit macht, deine Arbeit lobt, dir für deine Hilfe dankt, dich als toll bezeichnet? Fühlst du dich glücklich und sagst „Danke“, vielleicht sogar mit einem „Es war nicht einfach, ich habe mich wirklich sehr angestrengt“? Wenn ja: Gut gemacht! Das ist cool.

Oder spielst du es herunter? Sagst du: „Das war doch gar nichts“, oder: „Nicht der Rede wert“? Vielleicht fühlst du dich sogar unwohl, als ob du das Kompliment nicht verdient hättest?

Vielleicht hilft es, die Perspektive zu wechseln. Betrachte es aus dem Blickwinkel der Person, die dir ein Kompliment macht. Sie hat etwas gesehen, das ihr Freude bereitet hat. Vielleicht gefiel ihr dein Outfit, vielleicht deine Kompetenz, vielleicht deine Freundlichkeit, du hast etwas getan, das ihren Tag ein bisschen schöner, ein bisschen leichter oder besser gemacht hat. Sie will dir das durch ein Kompliment oder ein Dankeschön sagen.

Respektiere und akzeptiere, wie sie die Situation erlebt. Du hast für sie einen Unterschied gemacht. Das ist großartig, wenn es ein echtes Kompliment ist und nicht deine persönlichen Genzen verletzt.

Affirmationen kommen auch von innen, von dir selbst. In vielen Bereichen lernen wir, dass Understatement der richtige Weg ist, dass wir bescheiden und nicht hochmütig sein sollen – besonders wenn wir als Mädchen oder Frau sozialisiert wurden. Doch ehrlicher Stolz auf die eigenen Leistungen oder Talente ist keine Prahlerei, Zufriedenheit ist keine Wichtigtuerei, Selbstbewusstseinist keine Aufgeblasenheit.

Sag dir die Dinge, die du hören willst.

Mach es dir leicht, dir nette Dinge zu sagen. Mein Computer-Passwort ist eine Affirmation. Wenn du einen Satz wählst und nur die Anfangsbuchstaben teils verfremdet verwendest, kannst du jede Affirmation verwenden, die du willst. Ich bin stärker als eine echte Superheldin (1bs>esh). Ich rocke diesen Job von hier bis zum Mond. Ich bin unaufhaltsam in meiner Kreativität und meinem Engagement. Niemand ist so gut an der Tastatur wie ich.

Es darf ruhig eine Nummer größer sein. Niemand wird diesen Satz je hören. Meiner ist übertrieben und bringt mich jedes Mal zum Lächeln, wenn ich mich einlogge.

Was kannst du sonst noch tun? Wenn du eine Aufgabe erledigt und von deiner Liste gestrichen hast, kannst du laut sagen: „Gut gemacht“ oder „Tolle Leistung“. Damit du es nicht vergisst, kannst du einen Zettel auf deine Aufgabenliste kleben, auf dem steht: „Eine erledigt? Du machst das super!“ oder besorge dir einen Satz goldener Sternchen und kleb dir einen neben jede erledigte Aufgabe. Oder, wenn du nicht mit Listen arbeitest, kleb einen Stern in deinen Kalender oder dein Tagebuch für alles Erledigte. Oder mal einen gelben Stern, das ist eine umweltfreundliche Alternative.

Wenn du dein Aussehen überprüfst, bevor du das Haus verlässt, kannst du dir sagen, dass du gut aussiehst. Wenn dir das schwer fällt, kannst du mit Fensterfarbe „Ich liebe dich!“ oder „Hallo Schönheit“ auf den Spiegel schreiben. Wenn du weißt, dass du eine schwierige Aufgabe vor dir hast, wie zum Beispiel das Wohnzimmer aufzuräumen, nimm dir am Vorabend eine Minute Zeit und schreib dir eine nette Karte, auf der steht: „Du schaffst das!“, und wenn du fertig bist, füg noch ein „Ja, das habe ich!“ hinzu. Auch ohne andere Menschen, die dich unterstützen, kannst du dich selbst anfeuern.

Eine Sache, an der ich arbeite, ist, selbst um Bestätigung oder Komplimente zu bitten, während ich mit anderen spreche. Das ist schwierig. Man soll doch nicht nach Komplimenten fischen, oder?

Eine Möglichkeit, die bei mir funktioniert, ist Humor. Wenn mir jemand bei der Arbeit für die Lösung eines Problems dankt, lächle ich, zwinkere und sage: „Nun, ich *bin* fantastisch.“ Die übliche Reaktion ist: „Das bist du wirklich“. Das funktioniert vor allem, weil ich in einem sehr netten Umfeld arbeite und geschätzt bin. Andere Leute benutzen ein „Was würdest du nur ohne mich tun?“ auf die gleiche Weise.

Je öfter ich das sage, desto mehr wird mir bewusst, wie oft ich es sage. Wie oft man mich bittet, ein Problem zu lösen, und wie oft ich das tun kann. Offenbar bin ich also wirklich gut in meinem Job. Und selbst wenn ich es im Scherz sage, sage ich es. Und ich werde langsam immer sicherer darin, es zu sagen.

Als ich das letzte Mal meinem Partner gedankt habe, dass er es mit mir und meiner Unmenge persönlicher Probleme so gut aufnimmt, fügte ich hinzu: „Ich weiß, ich bin kompliziert. Aber ich bin es wert.“

Auch in der Hoffnung, dass er mir das glaubt.

Er antwortete, dass ich es wirklich wert bin. Was mich immens beruhigt hat.

Die meisten Menschen, vor allem diejenigen, die dich mögen, werden positiv reagieren, wenn du dich auch mal lobst. Aber es besteht natürlich immer die Gefahr, dass jemand sagt: „Wow, du bist ja ganz schön eingebildet“ oder sich über dich ärgert oder von dir eingeschüchtert wird, was wiederum ein ganzes Bündel seltsamer Reaktionen nach sich zieht. Am besten probierst du es erst im freundschaftlichen Rahmen aus.

Übung: Erstell eine Liste mit Dingen, die du an dir selbst magst. Das kann alles Mögliche sein. Es gibt mindestens eine Sache, auf die du stolz sein kannst und die du jeden Tag auf deine Liste setzen kannst: „Ich habe den Tag überstanden und bin immer noch da“. Das ist eine Leistung.

Du kannst Affirmationen leicht mit Dankbarkeit verbinden. Die Aufzählung von drei Dingen pro Tag, für die du dankbar bist, kann durch die Aufzählung von mindestens einer Sache pro Tag ergänzt werden, die du an dir selbst magst. Auf diese Weise hast du eine regelmäßige Übung, die dir mindestens einmal am Tag ein gutes Gefühl gibt. Acht aber darauf, dass du nicht zu viele Übungen auf einmal machst.

Lerne, eine Enttäuschung zu sein

Das habe ich in einer Zeitschrift gelesen und es hat mich sehr berührt. Wie oft habe ich schon etwas getan, nur um jemand anderen nicht zu enttäuschen? Ich habe eine Stunde länger gearbeitet, bin zum Familientreffen gegangen, habe den Nachtisch gegessen, obwohl ich mehr als satt war, die Karte geschrieben, meine Wohnung geputzt, einen Kurs beendet, nur um jemanden nicht zu enttäuschen. Das kann eine gute Sache sein. Oder auch nicht. Wenn ich Dinge tue, die außerhalb meiner aktuellen Möglichkeiten, außerhalb meiner Energie und meiner Belastbarkeit liegen. Wenn ich mir selbst schade, um andere nicht zu enttäuschen.

Wenn du merkst, dass du etwas tun willst, nur um andere nicht zu enttäuschen, stell dir zwei Fragen.

1.     wäre es wirklich eine Enttäuschung?

  • Wenn du es nicht zu einer Party schaffst, ist die Person, die dich eingeladen hat, vielleicht traurig. Aber es werden eine Menge anderer Leute da sein und sie wird trotzdem Spaß haben. Wenn es sich eher um eine Bekanntschaft handelt, wird die Enttäuschung gering sein, wenn es sich um eine enge Freundschaft handelt, ist es ihr vielleicht sogar lieber, wenn du dich um dich selbst kümmerst. Und wenn nicht: ist die Freundschaft dann so eng?
  • Wenn du die Präsentation nicht heute Abend, sondern erst morgen früh fertigstellst, wird das wahrscheinlich keinen großen Unterschied machen.
  • Wenn du zu Hause bleibst, anstatt dich mit deiner Familie zu treffen, weil du erkältet bist, wird deine Familie traurig sein, aber abgesehen davon, dass sie hoffentlich möchte, dass du dich um dich selbst kümmerst, wollen sie auch nicht, dass du sie ansteckst.
  • Wenn dein*e Partner*in Sex will und du nicht, sollte er*sie es vorziehen, wenn du offen damit umgehst. Wenn das nicht der Fall ist, siehe unter „Kontrollier dein Umfeld“.

Menschen, denen du wirklich etwas bedeutest, werden dich dabei unterstützen, deine Grenzen zu verteidigen und für dich selbst zu sorgen. Menschen, denen du nicht wichtig bist, sind vielleicht nicht enttäuscht, wenn du dich nicht besonders für sie ins Zeug legst.

2.     was wäre wenn?

  • deine Führungskraft hätte die Präsentation gerne direkt früh am Morgen. Du müssten heute Abend eine Stunde länger arbeiten, um die Präsentation fertigzustellen. Und was, wenn du das nicht tust? Ist das dann nur eine Enttäuschung oder bedeutet es Ärger?
  • Wenn du Trauzeug*in sein sollst, wird das Paar enttäuscht sein, wenn du absagen musst. Werden sie jemand anderen finden? Wahrscheinlich. Werden sie aufhören, mit dir befreundet zu sein? Wahrscheinlich nicht.
  • Wenn du dich nicht bereit erklärst, den Vorsitz bei einem Verein zu übernehmen, werden die Leute, die dich darum bitten, enttäuscht sein. Und vielleicht haben sie keine andere Person, die sie fragen können. Ist das wirklich dein Problem?

Einige dieser Dinge mögen unverschämt egoistisch klingen. Aber du bist die einzige Person, die wirklich weiß, wo deine Grenzen zu einem bestimmten Zeitpunkt liegen. Du bist der einzige Mensch, der entscheiden kann, ob etwas zu viel ist. Du bist deine letzte Verteidigungslinie. Lass dich nicht im Stich. Denn dich um dich selbst zu kümmern, kommt vor dem Kümmern um andere. Beim Rettungsschwimmen wird immer darauf geachtet, die gerettete Person zum eigenen Schutz zwischen sich und eventuelle Hindernisse zu bringen, damit nicht beide ertrinken. Setz zuerst deine eigene Sauerstoffmaske auf.

Lerne, eine Enttäuschung zu sein. Gib anderen eine Chance, deine Grenzen zu kennen und zu respektieren. Wenn sie dazu nicht bereit sind, kannst du ihnen erklären, warum dies deine Grenzen sind, und hoffen, dass sie es verstehen – oder du kannst versuchen, etwas Abstand zwischen sie und dich zu bringen.

Übung: Schau dir deine Aufgabenliste an. Steht etwas darauf, das du nur machen willst, weil du jemanden nicht enttäuschen willst? Kannst du dich mit der Person in Verbindung setzen und ihr sagen, dass dir das momentan echt schwer fällt? Kannst du Nein sagen?

Wenn das im Moment zu schwierig ist: Wenn du das nächste Mal von jemandem gebeten wirst, etwas zu tun, dem du nicht sofort und mit gutem Gewissen zustimmen kannst, sag, dass du darüber nachdenken und dich innerhalb einer Woche wieder melden wirst. Denk darüber nach. Kannst du es tun? Möchtest du es tun? Wenn beides zutrifft, gut. Wenn eines oder beides nicht zutrifft ist, sag nein. Wenn das im Moment zu schwer ist: Sag, dass du es nur schaffen kannst, wenn du Hilfe bekommst. Das kann Hilfe sein, um zu einer Veranstaltung zu kommen, die du besuchen sollst, oder Hilfe beim Kauf der Zutaten für den Kuchen, den du backen sollst, oder eine Entschädigung für die Requisiten, die du bauen sollst. Komm dir selbst auf halbem Weg entgegen.

Schätze deine Fortschritte

Wenn es mir schlecht geht, habe ich manchmal das Gefühl, dass sich nichts ändert, dass es mir nicht besser geht, dass ales völlig sinnlos ist. Mir hilft es sehr, Dinge aufzuschreiben. Wenn ich mir Einträge ansehe, die ich vor drei, zwei oder sogar einem Jahr geschrieben habe, kann ich sehen, wie weit ich gekommen bin.

Ich bin besser darin geworden, meine Fortschritte zu würdigen. Wenn etwas passiert, was mich vor zwei Jahren noch aus der Bahn geworfen hätte, kann ich die Veränderung sehen. Wenn ich die Treppe hinunterlaufe, erinnere ich mich daran, wie ich jahrelang langsam hinunterhumpeln musste, als ich meine Sehnenentzündung hatte.

Wie werden Fortschritte messbar?

Du kannst ein Stimmungs- oder Schmerztagebuch führen, du kannst die Einnahme von Bedarfs-Medikamenten dokumentieren, du kannst dir eine bestimmte Zeit am Tag vormerken, um Bilanz zu ziehen, wie du dich fühlst.

Du kannst dich fragen: „Wenn der heutige Tag vor zwei Jahren stattgefunden hätte, wie hätte ich ihn bewältigt?“ Es gibt ein Dutzend kleiner Dinge, die Fortschritte zeigen und die so leicht übersehen werden können. Vor einiger Zeit brauchte ich mindestens eine halbe Stunde, um meine Wohnung zu verlassen, weil ich jeden Schalter doppelt und dreifach überprüfen musste, um sicherzugehen, dass alles, was ich ausschalten kann, auch ausgeschaltet war, jedes Fenster geschlossen und die Tür verriegelt war. Das tue ich nicht mehr. Wenn ich mir die Zeit nehme, um zurückzublicken, sehe ich den Unterschied und weiß es wirklich zu schätzen, dass ich das Licht anlassen kann, wenn ich nur kurz rausgehe, um den Müll rauszubringen.

Es ist leicht, sich nur auf die Dinge zu konzentrieren, die noch nicht klappen. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass es eine endlose Reihe von Dingen gibt, die noch nicht erreicht wurden, was den Eindruck erweckt, dass es nicht voran geht.

Übung: Atme durch und schau auf den Weg hinter dir. Vielleicht sogar wörtlich. Wenn ich bergauf laufe, mache ich manchmal eine Pause und schaue auf den Anstieg, der bereits hinter mir liegt, um zu sehen, wie weit ich gekommen bin. Du kennst die Berge, die du erklommen hast. Nimm dir einen Moment Zeit, um zu würdigen, was du überstanden, was du erreicht hast. Schau sowohl auf das Heute als auch auf die Vergangenheit. Das kann persönliches Wachstum sein, das kann Beziehungsarbeit sein, das kann Haushaltskram sein, Gesundheit, Fitness, Fähigkeiten … schätze, was du erreicht habst. Sei stolz auf den Weg, den du bereits zurückgelegt hast.

Kontrolliere deine Umgebung

Bei der Arbeit, in sozialen Situationen, in der Familie, bei Gesundheitscheckups, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Einkaufen – es gibt immer andere Menschen. In vielen Situationen hast du keine Kontrolle darüber, mit welchen Menschen du es zu tun hast, in anderen schon.

Manche Beziehungen sind toxisch und kosten dich eine Menge Energie. Wenn du es im Freundeskreis, in der Familie oder bei Ärzt*innen mit toxischem Verhalten zu tun hast, ist das anstrengend. Auch wenn irgendwelche fremden Leute giftige Bemerkungen machen, kann das an dir zehren.

Was ist also „giftig“ und wie kannst du dich dagegen wehren?

Nicht alle erleben die gleichen Dinge als toxisch. Dieselbe Person, dasselbe Verhalten, das für mich gut ist, kann dir schaden. Menschen sind unterschiedlich, die Bedürfnisse sind unterschiedlich, die Verletzlichkeiten sind unterschiedlich. Manche Dinge sind mehr oder weniger universell, manche aber eben nicht.

Generell würde ich sagen, dass etwas, das dich regelmäßig stresst, das es dir schwer macht, dich selbst zu akzeptieren, das deine Realität verleugnet, das unangemessenen Druck auf dich ausübt oder dich wiederholt aufwühlt, als toxisch betrachtet werden kann.

Aber was kannst du mit Menschen machen, die dich ständig ausnutzen oder verletzen?

Das kommt darauf an. Wenn es sich um eine beliebige Person handelt, kannst du nicht viel tun. Der Aufwand, den du betreiben musst, um das Problem anzugehen, ist höher als die zu erwartende Belohnung. Ich zitiere mal Dean Winchester: „Sei wie Elsa: Lass einfach los.“ Leichter gesagt als getan, ich weiß.

Wenn es sich um jemanden handelt, dem du häufiger begegnest, gibt es andere Möglichkeiten.

Sprich darüber. Ich weiß, man hat mir schon früh gesagt, ich solle anderen nicht zeigen, wenn sie mich verletzen, weil mich das noch verletzlicher mache. Aber ehrlich gesagt, bin ich schon verletzlich. Und es ist gut möglich, dass mich viele Menschen aus Versehen verletzt haben, vielleicht sogar, während sie versuchten zu helfen. Ich warte also eine Situation ab, in der ich gefasst bin, um das Problem anzusprechen und der Person zu sagen, dass ihr Verhalten mich verletzt.

  • Dies kann bedeuten, dass ich einem Arzt sage, dass ich das Gefühl habe, dass er mein Problem nicht ernst nimmt.
  • Das kann bedeuten, dass ich eine Weile warten muss, bis ich mich beruhigt habe, bevor ich einer Freundin sage, dass ihre Bemerkung, mich verärgert hat.
  • Dies kann bedeuten, dass ich einem geliebten Menschen sage, dass ich mich ausgeschlossen und unsicher fühle, wenn er immer sagt: „Ich möchte nicht darüber reden“.

Die meisten Menschen werden sich bemühen, dir das Leben nicht unnötig schwer zu machen.

Was aber, wenn du das Gefühl hast, dass du nicht darüber sprechen kannst? Oder wenn du es versucht hast und die andere Person dir gesagt hat, dass sie keine Rücksicht auf dich nehmen kann? Oder es passiert trotzdem immer wieder?

Manchmal kannst du jemand anderen bitten, einzugreifen und bei der Kommunikation zu helfen. Aber das ist nicht immer möglich und auch nicht immer erfolgreich. Manchmal kannst du vielleicht einen Schritt zurücktreten. Geh von einer Freundschaft zu einer Bekanntschaft über. Du musst das nicht ankündigen, wenn du das nicht willst. Du kannst dich einfach dafür entscheiden, weniger zu von dir mitzuteilen. Ein bisschen mehr Abstand zu halten. Und du schuldest  niemanden eine Diskussion darüber.

Auch im beruflichen Umfeld kannst du zu einem rein kollegialen Umgang zurückkehren. Führ Gespräche über die Arbeit, über Hobbys oder andere „sichere“ Themen. Lenk das Gespräch mit „Lass uns nicht über mich reden, wie war dein Wochenende?“ oder mit „Oh, das Übliche. Nun zu dieser Konferenz …“.

In manchen Fällen musst du dich vielleicht komplett zurückziehen. Brich die Verbindung zu einem Familienmitglied ab. Such einen anderen Arzt auf. Such dir einen anderen Job. Ja, das ist hart. Und ja, das wird auch Energie kosten. Das ist der Punkt, an dem du abwägen musst: Wird es du mehr kosten, wegzugehen oder zu bleiben? Kannst du bei einer Option Unterstützung bekommen? Kannst du anderswo Kraft schöpfen, um das zu kompensieren?

Ich musste mich von einer Freundin trennen, die ich in der Therapie kennengelernt hatte, weil wir uns ständig über Themen wie die Geschlechter-Lohnlücke, transsexuelle Menschen, Gendering im Allgemeinen, die Existenz und Rechte intersexueller und nicht-binärer Menschen stritten. Sie glaubte an nichts von alledem. Und sie beschwerte sich oft über das ganze Trara und die Leute, die die Sprache verunstalteten. Es wurde so schlimm, dass es alles, was wir gemeinsam hatten, verdarb. Also trennten wir uns. Es tat weh und ich vermisse sie sehr, aber wir konnten beide nicht darüber hinwegsehen. Das ist traurig, aber es ist passiert.

Dich um dich selbst zu kümmern, auf deine Grenzen zu achten, schädliche Einflüsse fernzuhalten, wird dich wahrscheinlich etwas kosten. Die Leute werden sich wundern, vielleicht auch ärgern, wenn du plötzlich nicht mehr für alles und jederzeit zur Verfügung stehst, wenn du nicht mehr 100 % zuverlässig und bequem bist, wenn du dich selbst an die erste Stelle setzt. Aber wenn du dich nicht um dich selbst kümmerst, wird dich das mehr kosten.  Deine Gesundheit, dein Glück, deine Chance auf Heilung. Und du bist es wert. Und nicht jeder gezahlte Preis ist von Dauer. Manche Menschen finden einen Weg zurück in dein Leben, wenn ihr euch beide ein bisschen weiterentwickelt habt.

Übung: Schau in den Spiegel. Schau in deine Augen. Atme. Sag dir: „Ich bin die Mühe wert.“

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