Umgang mit Schuldgefühlen
Ich habe oft mit Schuldgefühlen zu kämpfen, und das kann viel Zeit und Energie kosten. Manchmal glaube ich, dass sie mich und meine Gedanken, meine Gefühle als Geiseln festhalten. Mit anderen Worten: Sie engen mich ein.
Theoretisch ist das ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass ich es besser machen will. Aber die Schuldgefühle halten mich aktiv davon ab, es besser zu machen. Ich habe vielleicht Angst, überhaupt etwas zu tun, damit ich nicht wieder einen Fehler mache. Oder es fällt mir schwer, überhaupt etwas zu tun, weil ich mich einfach zu schlecht fühle, um mich zu bewegen. Es kann zu einer Abwärtsspirale führen, in der ich denke: „Weil ich diese schlimme Sache getan habe, verdiene ich nichts Gutes“. Wenn ich dann all die guten Dinge, die ich nicht verdient habe, im Detail aufzähle, bin ich tief traurig und weine. Das ist kein guter Zustand und hilft niemandem.
Ich habe gelernt, dass es verschiedene Arten von Schuld gibt, die auf unterschiedliche Weise angegangen werden müssen. Also lohnt sich ein genauerer Blick, auch wenn es unangenehm ist.
Untersuch die Schuld
Ich weiß nicht, wie viele Arten von Schuldgefühlen es gibt, für mich ist es in der Regel eine von diesen beiden:
- Ich habe (glaube ich) etwas falsch gemacht
- Etwas Schlimmes ist passiert und ich gebe mir die Schuld
Je nachdem, was die Schuldgefühle auslöst, können mich verschiedene Schritte (teilweise) aus ihnen herausführen.
1. Ich habe (glaube ich), etwas falsch gemacht
Zunächst hilft es, herauszufinden, ob es nur die Angst ist, etwas falsch gemacht zu haben oder ob ich tatsächlich etwas falsch gemacht habe. Ich mache mir zum Beispiel oft Sorgen, dass ich etwas falsch gemacht habe, wenn jemand länger als gewöhnlich braucht, um zu antworten. Dann gehe ich alles durch, was ich *möglicherweise* getan habe, und fühle mich schuldig deswegen. Anstatt mir darüber den Kopf zu zerbrechen, habe ich angefangen, einfach zu fragen. Normalerweise ist die betreffende Person einfach nur beschäftigt. Das ist ein guter Weg, um die Schuldgefühle sogar zu vermeiden.
Aber manchmal habe ich etwas falsch gemacht, weil ich eben auch nur ein Mensch bin. In diesem Fall bitte ich um Entschuldigung. Das kann zwei verschiedene Folgen haben.
Mir wird verziehen
Wenn die betreffende Person mir sagt, dass es in Ordnung ist und ich mir keine Sorgen mehr machen soll, versuche ich, ihr zu vertrauen. Sie weiß, ob sie (noch) verletzt ist, und wenn sie es nicht (mehr) ist, gibt es keinen Grund, mich weiter zu quälen. Das funktioniert noch nicht perfekt. Denn ich möchte sie ja gar nicht erst verletzen, was nicht immer klappt.
Jemand schlug mir vor, darüber nachzudenken, wie ich mich fühlen würde, wenn die Positionen vertauscht wären: Ein Freund hat meinen Geburtstag vergessen? Jemand hat meinen Namen falsch geschrieben? Ich wurde versetzt, weil meine Freundin die Daten verwechselt hat? Würde ich denjenigen verzeihen?
Es gibt keinen Grund, mich selbst strenger zu behandeln als ich andere behandeln würde. Meine Freund*innen lieben mich nicht weniger als ich sie liebe, auch wenn es sich absurd anfühlt, das zu sagen. Meine Freund*innen sind großartig und wunderbar, natürlich verzeihen sie mir, wenn sie das sagen. Ich versuche also, auf meiner eigenen Seite zu stehen und ihre Vergebung zu akzeptieren, so wie sie meine Entschuldigung angenommen haben. Woher kommt dieser denn Satz gerade? Nimm ihre Vergebung an. Vielleicht kann mir diese Formulierung helfen, wenn ich das nächste Mal damit zu kämpfen habe.
Mir wird nicht verziehen
Was aber, wenn die betreffende Person meine Entschuldigung nicht annimmt oder sie zwar annimmt, aber sich dennoch von mir zurückzieht? Auch das ist schon vorgekommen, und es verfolgt mich manchmal immer noch.
Ich kann das akzeptieren, vielleicht weil das für mich immer das erwartete Ergebnis ist. Niemand ist gezwungen, eine Entschuldigung anzunehmen oder einer Person nahe zu sein, die ihn*sie verletzt hat.
Was mir schwerer fällt, ist zu verstehen, dass es nicht meine Schuld ist, dass jemand diese Entscheidung getroffen habt. Es ist ihre*seine Entscheidung, die von ihrer*seiner emotionalen Situation abhängt.
Und dann?
Ich habe leider keine feste Formel dafür. Es tut weh. Aber es sollte nicht ewig weh tun. Ich habe etwas falsch gemacht. Das kommt vor. Ich habe versucht, mich zu versöhnen. Und das ist buchstäblich alles, was ich tun kann. Ich kann einen zweiten Versuch machen, aber ich will auch nicht, dass die andere Person sich schlecht fühlt, weil sie mir nicht verzeiht, denn das ist ihre Entscheidung. Ich will mich nicht aufdrängen.
Ich habe alles getan, was ich unter den gegebenen Umständen tun konnte.
Das Einzige, was ich noch tun muss, ist, mir selbst zu verzeihen, dass ich nicht perfekt bin. Sobald ich herausgefunden habe, wie das geht, sage ich Bescheid.
Um ehrlich zu sein, habe ich einige Dinge getan, bei denen ich durchaus verstehe, wenn man mir nicht vergibt. Ich habe dumme Dinge getan, vielleicht aus Angst, Schmerz, Trauer, was auch immer. Vielleicht, weil ich nicht alles durchdacht hatte. Und während mir das Leid tut, muss ich doch verstehen, dass ich mich bemühen kann, es besser zu machen, ohne mich von Schuldgefühlen auffressen zu lassen. Ich muss nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, für diese Fehler zu bezahlen. Das würde sie nicht auslöschen. Ich kann nur versuchen, sie nicht zu wiederholen.
Übung 1: Wenn es dir das nächste Mal schwer fällt, Vergebung anzunehmen, stell dir vor, es sei ein verpacktes Geschenk, das dir angeboten wird. Nimm es an. Drück deine Freude darüber aus. Wann immer du dich wieder schuldig, stell dir das Geschenk erneut vor und leg es in ein Regal, damit du es nicht aus den Augen verlieren. Wirf es nicht weg.
Übung 2: Wenn dir das zu imaginär ist, versuch, die Rollen umzukehren. Spür, wie du der anderen Person verzeihst. Versuch, dieses Gefühl auf dich selbst zu übertragen.
Übung 3: Wenn es sich um eine*n enge*n Freund*in handelt, frag, ob er*sie es dir aufschreiben kann: „Dir ist vergeben“. Wann immer du merkst, dass die Schuldgefühle zurückkommen, schau auf den Zettel.
2. Etwas ist passiert und ich gebe mir die Schuld
Mein Partner hatte einen Unfall, der ihn in ein Koma versetzte, aus dem er nie aufgewacht ist. Er starb vor mehr als 12 Jahren, und ich kämpfte lange mit Schuldgefühlen.
- Weil ich es nicht besser machen konnte.
- Weil ich ihn nicht aufwecken konnte.
- Weil ich nicht meinen rechten Arm angeboten habe, um ihn zurückzubekommen.
- Weil ich nicht angeboten habe, mit ihm zu tauschen.
- Denn vielleicht, wenn ich mich nur mehr angestrengt hätte …
Viele Menschen teilen diese Gefühle. Kranke Angehörige, suchtkranke Verwandte, Menschen, die von Naturkatastrophen oder Unfällen betroffen sind.
- Wäre ich doch nur an diesem Tag nicht ausgegangen.
- Hätte ich nur gewusst, wie ich helfen kann.
- Wenn ich nur genug gewesen wäre.
- Wenn ich nur …
Viele Jahre lang habe ich versucht, mit dieser Schuld umzugehen, indem ich mich fragte: „Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“ Warum sollte ich glauben, dass ich etwas hätte tun können, was die Ärzt*innen nicht tun konnten? Dadurch fühlte ich mich ein wenig besser, aber nicht viel.
Im letzten Jahr hat mir eine Therapeutin eine andere Perspektive aufgezeigt:
Schuldgefühle sind eine Möglichkeit, sich vorzustellen, die Kontrolle über eine Situation zu haben, in der man hilflos ist.
Und das macht Sinn.
In dieser Situation fühlte ich mich hilflos. Machtlos.
Schuldgefühle bedeuten, dass ich etwas hätte anders machen können. Schuld impliziert ein gewisses Maß an Kontrolle.
Ich hatte mir gewünscht, etwas tun zu können. Also hat mein Gehirn einen Weg gefunden, mir das Gefühl zu geben, dass ich etwas hätte tun *können* um mich weniger hilflos zu fühlen.
Zu akzeptieren, dass das, was ich mir am meisten gewünscht hatte, außerhalb meiner Macht lag, diese Hilflosigkeit zu akzeptieren, hat für mich viel verändert. Seit einigen Monaten fühle ich mich nicht mehr schuldig, weil ich nicht in der Lage war, alles wieder gut zu machen. Für mich ist das eine lange Zeit, in der ich das nicht tragen muss.
Sich hilflos zu fühlen, macht keinen Spaß. Damals war es für mich wahrscheinlich einfacher, mich schuldig zu fühlen als hilflos. Aber die Situation selbst ist längst vorbei. Es ist an der Zeit, die Hilflosigkeit zu akzeptieren und die Schuldgefühle loszulassen.
Wenn es in deinem Leben etwas gibt, von dem du dir wünschst, du hättest es ändern können, und du dir immer noch vorwirfst, es nicht auf magische Weise in Ordnung gebracht zu haben – vielleicht ist es an der Zeit, auch das loszulassen. Wir sind nicht allmächtig. Wir können nicht alles in Ordnung bringen.
Und manchmal sind sogar die Dinge, die wir an einem guten Tag beeinflussen können, an einem schlechten Tag außerhalb unserer Reichweite. Und das ist nicht meine Schuld oder deine Schuld, es ist einfach so.
Übung: Mach diese Übung nur, wenn du dich stabil genug dafür fühlst, und bring dich nicht in eine Situation, in der du dich schlecht fühlst. Wenn möglich, Triff dich mit einem lieben Menschen, um diese Übung gemeinsam zu machen. Oder versuch, dich an die Übung zu erinnern, wenn du dich das nächste Mal wegen etwas schuldig fühlst, das hierher passen könnte.
Betrachte eine Situation, in der du dich schuldig fühlst. Vielleicht hat du kranke Angehörige und fühlst dich schuldig, weil du sie nicht gesund machen kannst.
Es könnte auch sein, dass du mit COVID glimpflich davongekommen bist, während andere gestorben sind.
Oder du hast die letzte Karte für ein Konzert bekommen und siehst enttäuschte Fans ohne Karte.
Das kann das Bewusstsein für Privilegien sein.
Das könnte einfach das Bewusstsein sein, dass wir Kriege haben und Menschen leiden, und du sitzt in deiner Wohnung und fürchtest nicht um dein Leben und kannst die Nachrichten abschalten, wenn es zu viel wird.
Vielleicht hast du etwas, das du schon zu lange mit dir herumträgst.
Frag dich: Wenn ein*e Freund*in in deiner Lage wäre und dir sagen würde, dass er*sie sich schuldig fühlt – was würdest du sagen? Würdest du sie beschuldigen? Oder würdest du sagen, dass es nicht seine*ihre Schuld ist?
Sag dir selbst laut und deutlich: „Das ist/war nicht meine Schuld. Es gibt/gab nichts, was ich tun kann/konnte. Ich bin/war in dieser Situation hilflos, und auch wenn es schwer zu akzeptieren ist, ist/war es nicht meine Schuld.“