Das Kapitel für Verbündete
Dieser Teil ist nicht in erster Linie für die Betroffenen interessant, sondern für ihre Verbündeten. Du willst helfen, weißt aber nicht, wie? Du willst den Stress nicht noch verstärken? Du möchtest dich um dein*e Freund*in kümmern, aber es fällt dir schwer? Oder du hast Menschen um dich, die es gut meinen, und du weißt nicht, wie du ihnen sagen sollst, dass sie keine Hilfe sind? Dieses Kapitel ist für dich. Es richtet sich an die Familien und Verbündeten. Wenn ich also „du“ sage, meine ich „liebe*r Verbündete*r“.
Frag nach
Die einzige Person, die weiß, wie sich ein Mensch fühlt und was er braucht, ist eben dieser Mensch. Wenn du helfen willst, frag, was du tun kannst. Wenn dein*e Freund*in das nicht formulieren kann, oder sich nicht traut, um die benötigte Hilfe zu bitten, mach Vorschläge, was du anbieten kannst.
Mögliche Fragen könnten sein:
- „Willst du Gesellschaft oder bist du lieber allein?“
- „Willst du darüber reden?“
- „Kann ich etwas tun, um zu helfen?“
- „Würde es dir helfen, wenn ich einkaufen gehe, dir das Abendessen koche, deine Firma/deine Familie anrufe, dir im Haushalt helfe oder mit deinem Hund spazieren gehe?“
- „Möchtest du abgelenkt werden?“
Dann hör dir die Antwort an und akzeptiere sie. Ich will damit nicht sagen, dass du das nicht sowieso tun würdest, aber wenn ich sage, dass ich nicht darüber reden möchte, werde ich oft gefragt: „Warum nicht?“, was letztendlich doch Gespräch darüber ist. Wenn dir jemand sagt, dass er*sie Abstand braucht, liegt das nicht daran, dass er*sie dich nicht mag. Es ist nur so, dass es manchmal einfacher ist, sich nur um sich selbst zu kümmern, und um sonst niemanden. Warum sollte er*sie sich um dich kümmern? Weil das ein Symptom der Depression ist.
Oder wenn die Antwort ist: „Danke, ich habe Abendessen für heute“, bedeutet das vielleicht, dass aber für morgen kein Frühstück da ist. Menschen, denen es schlecht geht, sind nicht gut darin, um etwas zu bitten oder ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Ich weiß, das macht es für dich schwieriger, aber glaub mir, wenn wir es für alle einfacher machen könnten, würden wir es tun.
Es gibt auch so etwas wie zu viele Fragen, der Punkt ist von Person zu Person und von Situation zu Situation unterschiedlich. Wenn du also ein paar Fragen beantwortet bekommen hast und immer noch nicht weißt, was du tun sollst, weil alle Antworten entweder „Nein“ oder „Ich weiß nicht“ lauteten, biete an, später noch einmal nachzufragen.
Verlass dich nicht darauf, dass die andere Person sich meldet, wenn ihr etwas einfällt. Sie tut sich vielleicht schwer damit, aus einem Bedürfnis eine Bitte zu machen. Es ist schwer, Menschen anzurufen und um Hilfe zu bitten. Menschen überhaupt anzurufen, kann schwierig sein. Vielleicht kannst du abklären, ob du lieber später anrufen, vorbeikommen, eine Chatnachricht oder eine E-Mail schreiben sollst.
Ehrlich sein
Sei ehrlich zu dir selbst und deine*r Freund*in. Biete nur die Hilfe an, die du wirklich zu geben bereit bist. Geh nur so weit, wie du es dir leisten kannst. Dein*e Freund*in möchte sich dir nicht aufdrängen oder dich dazu bringen, dich zu verbiegen. Du sollst dich nicht stressen und deine Bedürfnisse vernachlässigen, nur um seine*ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
Wahrscheinlich fühlt er*sie sich ohnehin schon wie eine Last. Wenn du dich durch die Dinge, die du zur Unterstützng tust, selbst unter Druck setzt, und das irgendwie deutlich wird, wird er*sie sich noch schwerer tun, um Hilfe zu bitten oder welche anzunehmen – nicht nur von dir, sondern allgemein.
Also, sei dir und anderen gegenüber fürsorglich und achtsam. Bevor du etwas anbietest, nur um etwas anzubieten, überleg, ob du das wirklich tun willst und kannst.
Glaube was du hörst
Wenn dir jemand eine traumatische Geschichte erzählt, gibt es viele mögliche Reaktionen:
- Schock
- Wut
- Mitgefühl
- Unglaube
All dies ist verständlich. All das bedeutet, dass du dir Sorgen machst. Es mag dir schwer fallen, zu glauben was passiert ist. Aber es geht jetzt nicht um dich und deine Reaktionen. Glaube, dass die betroffene Person am besten weiß, was passiert ist und was das für sie ausgelöst hat. Auch wenn dir so etwas wie die beschriebene Situation noch nie passiert ist, auch wenn du nicht glauben willst, dass so etwas jemandem passieren könnte, glaube, dass die andere Person genau das erlebt hat.
Wenn jemand ein Trauma mit dir teilt, öffnet er sich dir gegenüber und entscheidet sich, verletzlich zu sein. Die Person taucht dafür erneuten das Trauma ein, wird wieder mit der Situation und dem Schmerz konfrontiert. Sie ist wahrscheinlich verletzt, hat Angst, schämt sich vielleicht, ist verlegen und unsicher.
Wenn du ihre Erfahrungen in Frage stellst, hat sie leicht das Gefühl, sich für ihre Gefühle rechtfertigen zu müssen, als müsste sie ihren Schmerz verteidigen. Sie könnte sich selbst die Schuld dafür geben, die Situation als traumatisch erlebt zu haben. Auch wenn du nicht verstehst, warum die Situation schmerzhaft war, glaube es einfach. Frag nach, aber stelle es nicht in Frage.
Unaufgeforderte Ratschläge
Wenn dir jemand von einem Problem erzählt und du einen Vorschlag machst, wie man es lösen kann, dann willst du nur helfen. Wo liegt also das Problem?
Ein einfaches Beispiel: ich erzähle dir, dass meine Schulter schmerzt, und du hast diese fantastische Dehnungsübung, die dir sehr geholfen hat, also ezählst du mir natürlich alles darüber. Und ich wirke genervt. Was ist passiert?
Wahrscheinlich kenne ich ein Dutzend Dehnungsübungen für meine Schulter, mindestens drei davon wurden mir in der Physiotherapie für genau dieses Problem empfohlen. Wahrscheinlich weiß ich, dass ich diese Übungen eigentlich machen sollte, aber aus irgendeinem Grund mache ich sie einfach nicht. Das kommt vor. Vielleicht habe ich eh schon ein schlechtes Gewissen, weil ich diese Übungen nicht gemacht habe.
Wahrscheinlich fühle ich mich wie gelähmt durch den Berg von Dingen, die ich tun sollte. Dazu kommen die Schuldgefühle und die Scham darüber, dass ich sie nicht getan habe, und die Angst davor, dass es immer schlimmer und nie besser wird.
Wenn du mir jetzt in Form einer weiteren Übung noch eine weitere Sache auf den Berg legst, kommt noch mehr Druck und Schuld hinzu.
Ich weiß, dass du einfach nur helfen wolltest, nehme den letzten Rest an Energie zusammen, um zu lächeln und mich zu bedanken, denn das ist es, was man tut, wenn jemand zu helfen versucht. Das kann dazu führen, dass ich mich erschöpft und noch mehr von meinem Berg eingeschüchtert fühle. Wenn ich also sage, dass mir die Schulter weh tut, will ich wahrscheinlich nur etwas mitteilen. Und vielleicht nur hören: „Armer Hase“, denn das hilft manchmal.
Das bedeutet nicht, dass du keine Ratschläge geben kannst, aber es bedeutet, dass es nett wäre, sie anzubieten, anstatt sie zu geben. Anstatt die Übung zu beschreiben, könnten du fragen: „Möchten du einen Ratschlag dazu?“ Wenn ich keinen will, mach den Berg nicht noch höher.
Tat und Wort
Wenn du kannst, biete nicht nur Worte sondern echte Hilfe an. Versuch, „du solltest …“ in „Möchstest du Hilfe bei …“ umzuformulieren.
- Eine Pause zu machen erfordert manchmal, dass jemand anderes einspringt und die Arbeit übernimmt.
- Sich gegen andere durchzusetzen kann Unterstützung erfordern.
- Gehen ist oft einfacher, wenn jemand mitgeht.
Meine Erfahrung ist: Wenn man mir nur sagt, was ich tun soll, so wahr es auch sein mag, ohne mir dabei irgendeine Hilfe anzubieten, fühle ich mich in der Regel nur von einer weiteren Person herumgeschubst, fühle mich nur noch mehr gestresst, bekomme noch mehr Schuld zugewiesen.
Es ist völlig in Ordnung, wenn du dich nicht engagieren willst. Es ist völlig in Ordnung, wenn du nicht helfen willst. In diesem Fall solltest du aber nicht noch mehr Druck aufbauen.
Toxische Positivität
Manche Menschen sagen anderen, sie sollen lächeln und „die Dinge positiv sehen“. Manche sagen, dass die Dinge gar nicht so schlimm sind, wenn man einen Schritt zurücktritt, oder dass sie sich unnötig Sorgen machen, oder: „Kannst du nicht einfach glauben, dass ich dir nichts Böses will?“
Die Antwort lautet „Nein“.
Wenn ich einfach positiv denken könnte, würde ich es tun, denn depressiv oder ängstlich zu sein, macht keinen Spaß. Wenn ich aufhören könnte, mich zu sorgen, würde ich es tun, denn Sorgen sind anstrengend. Wenn ich glauben könnte, dass andere Menschen mein Bestes im Sinn haben statt instinktiv zu erwarten, dass andere mich verletzen, würde ich es tun, denn immer Angst zu haben und auf der Hut zu sein, ist schmerzhaft.
Manche Menschen kommen aus Situationen, in denen sie ständig auf jede Nuance achten mussten, weil die Stimmung jederzeit umschlagen konnte un sie dann verletzt wurden. Körperlich, seelisch, beides. Von Eltern, Partner*innen, was auch immer. Es ist schwer, das loszulassen.
Anderen zu sagen, dass sie lächeln sollen, bedeutet, ihnen zu sagen, dass sie ihre Gefühle ignorieren oder sich selbst etwas vormachen sollen – etwas, das viele schon zu lange getan haben. Ehrlich zu de eigenen Gefülen zu stehen, könnte für deine*n Freund*in ohnehin schwer sein, also mach es bitte nicht noch schwerer.
Anderen zu sagen, sie sollten das Positive sehen oder sich keine Sorgen machen, entwertet ihre Erfahrungen. Vielleicht gibt es für sie keine positive Seite, oder die schlechte Seite ist einfach so schlimm, dass keine noch so gute Seite das wieder wettmachen kann. Wenn eine Person bei einem Unfall einen Arm verliert und ihr gesagt wird, sie solle das Positive sehen und froh sein, dass sie noch lebt, dann hat sie trotzdem einen Arm verloren. Einerseits kann man sagen: „Einen Arm zu verlieren ist besser, als zu sterben“. Andererseits kann man genausogut sagen: „Es ist besser, keinen Arm zu verlieren, als einen zu verlieren“ oder „Ich hätte den Unfall lieber gar nicht erst gehabt“. Deine positive Sichtweise verlangt vieelicht zu viel von anderen. Respektiere den Schmerz, den sie haben, ohne zu versuchen, ihn wegzuschieben.
Anderen zu sagen, sie sollen sich durch nichts von dem, was du sagst, verletzen lassen, weil sie wissen sollten, dass du sie liebst, ist ebenfalls hart und verstärkt den Schmerz noch durch Schuldgefühle.
Wenn du jemandem aus Versehen ein Messer in den Bauch stichst, erwartest du nicht, dass er aufhört zu leiden und zu bluten, nur weil du das nicht gewollt hat. Mit emotionalen Wunden ist es ganz ähnlich. Dein*e Freund*in kann nicht kontrollieren, was wie weh tut. Er*sie kann kontrollieren, ob er*sie dir vertraut, dass du es nicht so gemeint hast und mit dir befreundet bleiben, was viel Mut brauchen könnte, aber er*sie kann sich nicht dazu zwingen, nicht zu bluten.
Schütz dich
Du bist jemand, der*die helfen will. Das ist wunderbar und nicht selbstverständlich, aber bitte schütze dich.
Wenn dein*e Freund*in noch nicht akzeptiert hat, dass er*sie Probleme hat oder Hilfe braucht, kannst du die Erkenntis nicht erzwingen. Vor dem Annehmen von Hilfe stehen die Erkenntnis und die Akzeptanz, diese Hilfe zu brauchen.
Du bist ein*e Freundin, kein*e Therapeut*in. Das bedeutet, dass du dich weder in diese Rolle drängen lassen noch sie annehmen solltest. Das eine kann schädlich für dich sein, das andere für deine*n Freund*in. Betrachte es als eine Operation an der Seele. Therapeut*innen wissen, wie man mit plötzlichen Blutungen, Herzversagen oder Infektionen umgeht, sie wissen, worauf sie achten müssen. Du weißt das nicht. Aber du kannst ein*e Freund*in sein, solange du dich damit wohl fühlst.
Menschen mit psychischen Erkrankungen oder chronischen Schmerzen, Menschen, die sich durch ihre Probleme kämpfen, können anstrengend sein. Sie brauchen besondere Aufmerksamkeit. Sie brauchen mehr Hilfe. Du wirst wahrscheinlich mehr Energie in diese Freundschaften stecken als in andere. Zum Dank kommt dein*e Freund*in vielleicht nicht einmal zu deinem Geburtstag, weil es einfach nicht g.
Manchmal hast du das Gefühl, dass alles, was du sagt, die andere Person verletzt, und du weißt nicht, wie du es so formulieren sollst, dass sie weiß, dass man du dich um sie sorgst. Manchmal wirst du das Gefühl haben, dass dein*e Freund*in kalt oder egozentrisch, unsensibel oder egoistisch ist. Dein*e Freund*in versucht wahrscheinlich, ein Gleichgewicht zu finden, und schwankt gelegentlich zu weit in die eine oder andere Richtung.
Ihr beide verdient Aufmerksamkeit, Sorge und Zuneigung.
Wenn du also irgendwann das Gefühl hast, dass du dich zurückziehen musst, weil es zu viel für dich ist, dann ist das in Ordnung.
Deine Gefühle sind berechtigt, und auch dein Wohlbefinden ist wichtig.