Der Weihnachtskobold
Warnhinweis: Verbannung, Bier
Pläne
Ich weiß nicht, wer die Gerüchte in Umlauf gesetzt hat, dass der Weihnachtsmann eine Werkstatt am Nordpol hätte. Ich weiß auch nicht, wer behauptet hat, dort würden kleine Elfen und Kobolde das ganze Jahr über Spielsachen bauen, damit der Weihnachtsmann sie den Kindern schenken kann.
Aber wer immer das war: es war entweder gut geraten oder jemand, der schon einmal da war.
Gnulf war ein ganz normaler kleiner Kobold, der bei seinen Eltern oben am Nordpol aufwuchs. Seine Eltern entwarfen und bauten Spielzeug für den Weihnachtsmann, so wie fast alle Kobolde am Nordpol. Einige hüteten Rentiere, andere halfen in der Küche oder bei der Reiseplanung, aber die meisten machten Spielzeug. Schließlich wurde für ein richtiges Weihnachtsfest eine ganze Menge Spielzeug gebraucht. Und Gnulf stammte aus einer alten Familie von Kobolden, die alle Spielzeug angefertigt hatten. Seine Großeltern hatten das getan, deren Eltern und Großeltern und deren Eltern und Großeltern. Und davor gab es noch keine Werkstatt am Nordpol. Kobolde werden ziemlich alt.
Wann immer Gnulf sich fragte, was er später einmal werden wollte, dann war die Antwort „Spielzeugmacher“. Außer Gnulf fragte ihn das auch keiner, denn am Nordpol fragte man so etwas nicht. Es gab zwar keinen sprechenden Hut, der einem sagte, was man werden sollte, aber letztendlich entschied das der Chef selbst. Er konnte sehen, was die Kobolde und Elfen am besten konnten oder am liebsten taten. Dadurch wusste er immer, wer wohin gehörte.
Einerseits hatte dadurch jede und jeder eine Aufgabe, die genau passte, aber es veränderte sich auch wenig. Was einige gut fanden und andere nicht hinterfragten, weil es immer so gewesen war. Aber für Gnulf war nur wichtig, dass er Spielzeugmacher werden durfte, egal, aus welchem Grund.
Er durfte wie alle kleinen Elfen und Kobolde, von denen es nur wenige gab, in jeden Bereich der Werkstätten, der Verwaltung, der Ställe und des Hauses hineinschnuppern, um zu sehen, was zu ihm passte.
Besonders viel schnupperte Gnulf nicht, denn er wusste ja schon, was zu ihm passte. Er verbrachte seine Zeit lieber damit, Schnitzen und Drechseln zu lernen, Hölzer zu beobachten und Farben auszuprobieren. Und als dann endlich der Tag kam, an dem Gnulf zum Chef gebracht wurde, hatte der kleine Kobold schon eine passable Holzeisenbahn fertig gestellt, deren Lokomotive er als Glücksbringer in seiner Hosentasche mitnahm.
Gnulf wartete vor dem Büro des Weihnachtsmannes. Seine Mutter saß neben ihm, als er unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschte.
„Warum bist du so aufgeregt? Der Chef wird die richtige Entscheidung treffen. Das tut er immer.“
„Die richtige Entscheidung für wen?“, fragte Gnulf.
Bevor seine verdutzte Mutter antworten konnte, öffnete sich die Tür zum Büro und Gnulf ging mit weichen Knien seinem Schicksal entgegen.

Wäre alles so gekommen, wie Gnulf sich das gewünscht hatte, dann hätte ich jetzt keine Geschichte zu erzählen, oder eben eine andere, aber nicht diese. Doch statt den kleinen Kobold für seinen Eifer zu loben und ihn zum Spielzeugmacher zu ernennen, sah der Weihnachtsmann ihn nur traurig an und schüttelte den Kopf.
„Es passiert nicht oft, dass hier jemand vor mir steht, der den Weihnachtsgedanken nicht verstanden hat. Aber bei dir sehe ich nichts davon. Ich sehe Stolz und ich sehe Ehrgeiz. Und obwohl beides gut ist, ist es nicht ausreichend.“
Gnulf starrte den Chef völlig fassungslos an, während der seufzte.
„Ich will, dass du in die Welt hinaus gehst und den Weihnachtsgedanken findest. Wenn du so weit bist, kannst du zurückkommen und wir werden sehen, was du werden wirst. Aber bis dahin wird dir die Werkstatt verschlossen sein.“
Benommen stand Gnulf auf, drehte sich wie im Traum langsam um und ging zur Tür hinaus.
Er blieb nicht stehen, als seine Mutter ihn ansprach, er blieb nicht stehen, als er durch die Halle ging und von den anderen gefragt wurde, was der Chef entschieden hätte. Er blieb nicht stehen, als er an der großen Schmucktür angekommen war, in die eine kleinere eingesetzt war, die sich viel besser gegen den Schnee abdichten ließ. Die Wächter öffneten die Tür für ihn und Gnulf ging hinaus in die weiße Welt, den Schnee und die Einsamkeit.
Dann blieb er stehen und sah den Schneeflocken beim Tanzen zu, ohne sich darüber zu freuen. Er spürte die Kälte kaum und merkte nicht, dass seine Zehen so taub wurden, wie sein Inneres gerade war.
„Vielleicht solltest du nicht einfach so draufloslaufen“, meinte eine der Wachen, die hinter ihm aus der Tür getreten war.
Gnulf drehte sich um. „Aber ich kann nicht wieder hinein gehen.“ Die Wache nickte. „Ich weiß, die Werkstatt ist dir verschlossen. Auch jetzt schon. Aber der Chef hat vermutet, dass du so reagierst, und hat dir einen Rucksack gepackt.“
„Warum?“
„Weil er nicht will, dass dir etwas passiert. Er will, dass es dir gut geht. Er will, dass du findest, wonach du suchst und dass du zurückkommst, nehme ich an“, sagte die Wache. „Und das ist alles einfacher, wenn du nicht erfrierst oder verhungerst.“
Zu dem Rucksack reichte die Wache Gnulf auch einen Mantel und Stiefel. „Pass auf dich auf. Ich werde hier sein, wenn du wiederkommst.“
„Aber wo soll ich denn hin? Ich kenne hier draußen doch niemanden!“ Die Welt kannte Gnulf bisher nur aus Erzählungen und den Planungen der Weihnachtsfahrt, und das waren bestimmt keine verlässlichen Quellen.
„Die Welt ist voller Leben. Du wirst schon klarkommen“, meinte die Wache aufmunternd.
„Aber ich habe kein Zuhause mehr“, schniefte Gnulf. Die Wache sah ihn halb streng, halb mitfühlend an. „Du wirst immer ein Zuhause haben. Du kommst nur gerade nicht rein. Und es ist an dir, das zu ändern. Und jetzt los, du willst doch schnell wieder zurück sein!“
Gnulf machte sich also auf den Weg. Irgendwohin. Wie lange konnte es für einen Weihnachtskobold schon dauern, den Weihnachtsgedanken zu finden?
Suche
Es dauerte zumindest länger als gedacht.
Jeder Kobold lernt, unter Menschen nicht aufzufallen. Es kann ja immer mal sein, dass der Schlitten eine Panne hat und jemand Hilfe holen muss. Aber das ist nur ein Trick. Ein Kobold kann für Menschen aussehen wie ein Mensch, aber das liegt in der Wahrnehmung des Menschen. Deswegen klappte es bei Kindern auch nicht immer, die sahen, was sie wollten, nicht, was sie sollten. Der Kobold wird dadurch nicht größer. Der Schnee wird nicht flacher, der Weg nicht kürzer. Und Gnulf hatte wie jeder Kobold kurze Beine.
Nach wenigen Tagen hatte der kleine Kobold die ersten Menschen gefunden, dann ein Dorf, eine Stadt, eine Überfahrt. Und er dachte darüber nach, was der Weihnachtsgedanke sein könnte. Worum ging es dabei? Wohin er kam, hörte er aufmerksam zu, was die Leute redeten, was sie sich wünschten, was sie wollten, was sie über Weihnachten dachten. Die meisten dachten anscheinend kaum darüber nach. Es war ja auch noch früh im Jahr. Aber Weihnachten war so etwas wie ein Geburtstag. Und über Geburtstage sprachen die Leute das ganze Jahr. Das wäre ein guter Anfang für die Suche, dachte Gnulf.
Es ging meist um Geschenke, wenn jemand über Weihnachten oder andere Geburtstage sprach. Und um Essen. Gnulf beschloss, sich auf die Wünsche zu konzentrieren und eine Gemeinsamkeit zu finden, aber kaum zwei Menschen wollten das Gleiche. Nach langen Monaten, der kleine Kobold wollte schon beinahe aufgeben, fiel ihm auf, was die meisten Wünsche gemeinsam hatten: Es ging um Ausgeglichenheit, eine Balance. Geschenke für andere mussten angemessen sein, hieß es immer. Jedes Geschenk musste erwidert werden. Die Art und Größe des Geschenkes waren abhängig davon, in welchem Verhältnis die Menschen zueinanderstanden und was im letzten Jahr geschenkt wurde. Es ging also weniger darum, was geschenkt wurde, oder wie, sondern wie viel.
Es dauerte noch eine Weile, bis Gnulf diese Erkenntnis zu einem Weihnachtsgedanken formen konnte, und so verging ein ganzes Jahr, bis er wieder am Nordpol eintraf, um dort die Wache zu suchen.
Nur so ein Gedanke
Der Schnee stob wild auseinander, und ein kalter Wind wühlte die weiße Welt auf. Nur schemenhaft konnte Gnulf die dunkle Gestalt ausmachen, die reglos im Schneetreiben stand. Als er näherkam, erkannte er die Wache, der ihn erwartete. Aber statt Gnulf freudig zu begrüßen, schüttelte die Wache den Kopf. „Du bist zu früh“, sagte sie.
„Aber ich habe den Weihnachtsgedanken gefunden“, meinte Gnulf. „Und ich war schon viel zu lange weg.“
„Und was glaubst du, ist der Weihnachtsgedanke?“, fragte die Wache.
Gnulf hatte sich die Formulierung lange zurechtgelegt, aber jetzt war vor lauter Aufregung sein Kopf wie leergefegt. Er musste kurz überlegen, während die Wache geduldig wartete.
Er stammelte los: „An Weihnachten geht es um Ausgleich und Balance. Zwischen den Menschen, zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Hektik und Ruhe. Es geht darum, das Gleichgewicht wieder herzustellen, um einen guten Ausgang für einen Neuanfang im neuen Jahr zu haben.“
Es klang nicht so gut wie das, was der kleine Kobold sich vorher überlegt hatte, aber es war nah dran. Erwartungsvoll sah er die Wache an, voll Ungeduld, endlich nach Hause zu kommen.
„Das ist ein guter Anfang, aber es ist nicht ausreichend“, sagte die Wache. Als sie sah, wie sehr das den kleinen Kobold traf, fügte die Wache hinzu:
„Aber es ist genug, um dir einen Hinweis zu verdienen. Du hast an der falschen Stelle gesucht.“
„Wo hätte ich denn suchen sollen?“, fragte Gnulf verwirrt, aber die Wache schüttelte wiederum den Kopf. „Das musst du selbst herausfinden.“
Niedergeschlagen machte Gnulf sich auf den Weg zurück in die Welt. Auf dem Weg zu der ersten Siedlung grübelte er die ganze Zeit darüber nach, was die Wache gemeint hatte. Er grübelte auf der Überfahrt, die er dieses Mal in eine andere Richtung antrat. Der Teil der Welt, den er jetzt schon kannte, war ja nicht die richtige Stelle gewesen.

Neuer Versuch
„Sieh mal an, wen wir da haben“, sagte eine Stimme hinter Gnulf, als er nach wochenlanger erfolgloser Suche in einer Kneipe saß und sein Schicksal bedauerte. Er war dem Weihnachtsgedanken noch nicht nähergekommen, er hatte fast eine Idee, aber sie blieb immer knapp außer Reichweite. Eben war sie ihm wieder entwischt, als die Stimme ihn abgelenkt hatte, und etwas mürrisch drehte Gnulf sich um. Dann stutzte er.
„Sieht aus, als hätten wir ihn überrascht“, sagte die Besitzerin der Stimme, die ihn aus seinen Gedanken aufgeschreckt hatte.
„Sehe ich genauso“, grinste ihr Begleiter. Gnulf hatte die beiden noch nie gesehen, aber irgendwie kamen sie ihm bekannt vor. Er kniff die Augen zusammen, um hinter das zu blicken, was er sehen konnte. Und tatsächlich, die beiden waren keine Menschen. Es waren Kobolde wie er, die nur versuchten, unter den Menschen nicht aufzufallen.
„Seid ihr auch verbannt worden?“, fragte er aufgeregt. Wenn er auf seiner Suche nicht mehr allein wäre, würde das vielleicht helfen.
„Verbannt?“, fragte die Koboldin, „von wo denn?“
Gnulf blickte sie erstaunt an. „Von wo wohl? Aus der Weihnachtsmannwerkstatt!“
Die beiden Kobolde schwiegen kurz und brachen dann in Gelächter aus. „Die Weihnachtsmannwerkstatt, Larf, hast du das gehört?“, gluckste die Koboldin.
Auch ihr Begleiter wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Wahrscheinlich liegt die am Nordpol, was?“, fragte er.
„Und Kobolde arbeiten da zusammen mit den Elfen und kümmern sich um die Rentiere“, kicherte sie.
Gnulf war fassungslos. „Was ist daran so komisch?“, fragte er, als die beiden sich wieder beruhigt hatten.
„Du meinst das ernst, oder?“, fragte Larf.
Gnulf nickte.
„Aber das sind nur Geschichten …“, fing die Koboldin an, aber Larf unterbrach sie. „An manchen Geschichten ist was dran, Prenna. Vielleicht ist das mehr als ein Märchen.“
Prenna setzte sich zu Gnulf an den Tisch und sah ihn streng an. „Jetzt erzähl erst mal von Anfang an. Und versuch nicht, uns zu verschaukeln, sonst gibt es gewaltigen Ärger.“
Während Gnulf erzählte, setzte auch Larf sich. Beide lauschten gebannt, wie Gnulf Dinge beschrieb, die sie nur aus Gute-Nacht-Geschichten ihrer Eltern kannten. Als Gnulf geendet hatte, sah er die beiden erwartungsvoll an. „Und wie seid ihr hierhergekommen?“
Larf und Prenna blickten sich an und zuckten mit den Schultern. „Wir wohnen hier in der Nähe, schon immer. Unsere Eltern haben gesagt, dass sie aus der Weihnachtsmannwerkstatt kommen, aber das haben wir ihnen nie geglaubt. Das klingt ja auch zu verrückt.“ Beim letzten Satz guckte Larf etwas entschuldigend, aber Gnulf nickte nur. Es war ja auch etwas verrückt. Soweit er das beurteilen konnte, glaubte niemand, der über zwölf Jahre alt war, daran, dass es einen Weihnachtsmann gab, geschweige denn eine Werkstatt am Nordpol. Obwohl er schon einige Filme darüber gesehen hatte, aber das waren nun wahrlich keine Dokumentationen gewesen. Blitzer war schon ein ziemlich bescheuerter Name für ein Rentier.
„Gesetzt den Fall, wir glauben dir“, begann Prenna, „Wie könnten wir dir dann helfen, und was springt für uns dabei raus?“
Aber Gnulf wollte keine Hilfe von Fremden, auch wenn es Kobolde waren. „Ich werde das allein schaffen müssen, fürchte ich. Aber es ist schön zu wissen, dass es hier entfernte Verwandte gibt. Vielleicht könnt ihr mir ja ein paar Dinge erklären, die ich an der Welt hier draußen nicht verstehe?“
Und so erklärten Larf und Prenna, was eine Karriere ist, wie Versicherungen funktionieren und versuchten, Gnulf klarzumachen, was es mit der Börse auf sich hatte. Sie ließen es gut sein, als er fragte, ob der Aktienmarkt sowas wie ein Glücksrad sei. Das war nah genug dran.
Nach einem ziemlich langen Abend schüttelte Gnulf dann nur noch verwirrt den Kopf und meinte: „Wie soll ich denn in so einer Welt den Weihnachtsgedanken finden?“ Doch Larf und Prenna versprachen, dass es nicht überall so zuginge.
Eine andere Sicht
In den nächsten Wochen zeigten die beiden ihm Orte und Menschen, die zwar auch nicht dem Geld abgeschworen hatten, die aber ein Gleichgewicht gefunden hatten, zwischen sich selbst und anderen, die sowohl darauf achteten, dass es ihnen gut ging, als auch darauf, anderen zu helfen. Und das waren oft gar nicht die großen Gesten wie Ärzte ohne Grenzen oder Obdachlosenheime oder Spendenorganisationen. Das waren ganz oft einfach einzelne Menschen, die für die Menschen in ihrem Leben da waren, die achtsam mit anderen umgingen oder auch einen Organspendeausweis hatten. Menschen, die bereit waren, auf andere zuzugehen.
Und Gnulf verstand, wo er sich beim ersten Mal getäuscht hatte.
Also machte er sich erneut auf den Weg nach Norden, um die Wache zu finden und wieder nach Hause zu können. Larf und Prenna hatten angeboten ihn zu begleiten, aber Gnulf war sich nach seinem ersten hoffnungsvollen Anlauf nicht zweifelsfrei sicher, ob er dieses Mal richtig lag und wollte sich vor den einzigen, die er in dieser Welt kannte und mochte, auch nicht blamieren. „Ich komme euch holen, wenn alles geklärt ist“, versprach er.
So waren die beiden Kobolde auch nicht überrascht, als er wieder in der Kneipe auftauchte, in der sie sich kennengelernt hatten. Doch das freudige „Willkommen“ blieb beiden ungesagt im Halse stecken.
„Es geht nicht darum, anderen etwas von sich zu geben“, sagte Gnulf nur, als er sich setze. Mehr war auch gar nicht nötig, denn Larf und Prenna wussten genau, was das bedeutete. Gnulf durfte nicht nach Hause. Und auch wenn beiden die Idee mit der Weihnachtsmannwerkstatt noch immer völlig absurd vorkam, so hatten sie doch erkannt, dass Gnulf wirklich daran glaubte und dass es ihm wichtig war, wieder nach Hause zu dürfen. Und da war es nicht wichtig, ob es eine Werkstatt war oder ein Bastelkeller und ob er für den Weihnachtsmann arbeitete oder für IKEA. Ein Zuhause war wichtig, egal wie es für andere aussah.
„Nächstes Mal schaffst du es bestimmt“, sagte Prenna, während Larf erst einmal für alle Bier holen ging.
Gnulf zuckte die Schultern. „Wenn es nicht, wie ich zuerst dachte, um ein Gleichgewicht geht, und auch nicht um das Schenken, worum geht es denn dann? Was passiert an Weihnachten denn noch?“
Larf stellte den großen Krug auf dem Tisch ab. „Vielleicht geht es um Liebe?“, fragte er, als er sich seinen Stuhl zurechtrückte.
Prenna kicherte.
„Was? Liebe ist wichtig, und Weihnachten ist das Fest der Liebe. Wieso soll es dann nicht darum gehen?“
Aber Gnulf schüttelte den Kopf. „Wenn es um Liebe ginge, dann wäre es doch ein bisschen zu einfach, oder?“
„Wer sagt, dass es schwer sein muss?“, fragte Larf.
Gnulf dachte nach. Niemand hatte gesagt, dass es schwer sein musste. Er hatte nur gedacht, es müsste schwer sein, weil er bisher nicht darauf gekommen war.
„Aber wenn ich jetzt direkt wieder hin gehe und wieder falsch liege …“
„… dann machst du dich komplett zum Eichhörnchen?“, fragte Prenna.
„Genau das.“
„Und wenn es richtig ist, und du noch drei Monate abwartest, nur um dich nicht zum Eichhörnchen zu machen?“, fragte Larf.
„Dann mache ich mich zum Voll-Eichhörnchen“, gestand Gnulf ein. Es half nichts. Wie er es machte, er war ein Nagetier. Da half auch Bier nicht. Eine Weile malte er gedankenverloren Figuren aus verschüttetem Bier auf den Tisch. Kreise. Quadrate. Das Haus vom Nikolaus.
„Am besten gehe ich dann wohl direkt wieder.“
„Dieses Mal kommen wir aber mit“, da waren die zwei anderen Kobolde sich einig.
„Aber wenn es falsch ist …“, fing Gnulf an – „… dann merken wir es sowieso früher oder später“, vollendete Larf. „Außerdem war es meine Idee, und wenn sie falsch ist, dann ist es genauso meine Schuld.“

Noch so ein Gedanke
Also machten sie sich zu dritt auf den Weg – wenn auch nicht direkt, denn Larf und Prenna mussten noch ein paar Sachen packen. „Nordpol“ klang kalt.
Und was für die zwei kalt geklungen hatte, entpuppte sich als noch viel kälter. Prenna hatte inzwischen alles übereinander an, was sie eingepackt hatte, und sie hatten gerade erst das letzte Stück hinter sich gelassen, für das es noch ein Transportmittel gab. Ab hier mussten sie laufen.
„Seid ihr sicher, dass ihr nicht in den letzten Ort zurückwollt, um dort auf mich zu warten?“
Aber Prenna und Larf waren sicher. Gut, es war kalt. Richtig kalt. Aber einen Freund ließ man nicht allein. Schon gar nicht, wenn man trotz allem damit rechnen musste, dass er Beistand brauchen konnte. Wenn es nicht um Liebe ging, dann konnte Gnulf bestimmt einen Freund gebrauchen. Und eine Freundin.
Es dauerte lange. Wahrscheinlich waren es nur wenige Tage, aber Larf hätte geschworen, es waren Wochen. Prenna konnte sich kaum erinnern, wie sich Füße eigentlich anfühlten. Doch beide rissen sich zusammen, so gut es eben ging. Es war ihre Idee gewesen, mitzukommen, und dann mussten sie da jetzt auch durch. Gnulf hatte von Anfang an gesagt, es würde kalt.
Obwohl Prenna nicht gedacht hätte, dafür noch genug Kraft zu haben, machte sie doch einen großen Satz rückwärts, als vor ihr auf einmal der Schnee auseinanderstob und eine schemenhafte Gestalt erkennbar wurde.
„Du schon wieder?“, fragte die Wache. „Und dieses Mal mit Verstärkung?“ Sie kniff die Augen zusammen. „Kenne ich euch?“, wandte sie sich streng an Larf und Prenna und hob drohend ihren Stab. „Auch zu dritt kommt ihr an mir nicht vorbei.“
„Wir kennen uns nicht“, ergriff Larf das Wort und trat dabei einen kleinen Schritt nach vorn, nicht so viel, um der Wache zu nahe zu treten, doch genug, um sich zwischen sie und Prenna zu schieben. „Wir sind mit Gnulf befreundet und wollten ihn nur auf dem Weg begleiten. Wir wollen nirgendwo vorbei.“
„Obwohl es da, wo immer das dann auch sein mag, wahrscheinlich wärmer ist als hier“, murmelte Prenna.
Die Wache entspannte sich etwas. „Na gut, ich dachte schon, der Kleine hätte aufgegeben und wollte es jetzt mit Tricks versuchen.“ Sie wandte sich kopfschüttelnd Gnulf zu. „Du willst es also nochmal versuchen?“
Gnulf nickte.
„Und du bist dir sicher?“
Gnulf nickte wieder. „Aber das hat nichts zu sagen. Das war ich mir die letzten Male auch.“
„Na dann los.“
Gnulf holte tief Luft. „Und was passiert, wenn es wieder falsch ist?“
„Dann schicke ich dich wieder weg.“
„Und dann?“
„Dann warte ich, bis du das nächste Mal kommst. Oder irgendwann nicht mehr. Es gibt keine Begrenzung, wie oft du es versuchen darfst. Es gibt nur eine Grenze, wie oft du es aushältst, enttäuscht zu werden.“
Gnulf nickte. „Irgendwann gebe ich vielleicht auf. Aber jetzt noch nicht.“
Er sah zu Larf und Prenna. „Ich glaube -“, fing er an und schmunzelte. „Nein, das ist nicht richtig. Wir glauben, dass es bei Weihnachten um Liebe geht.“
„Wäre das nicht ein bisschen einfach?“, fragte die Wache.
„Muss es nicht etwas Einfaches sein, damit es alle verstehen können?“
Die Wache lachte. „Da ist was dran. Aber wie bei deinen anderen Ideen ist es zwar ein guter Anfang, aber nicht der Weihnachtsgedanke.“
„Wieso nicht?“, fragte Prenna.
„Aber sollte er das nicht sein?“, kam es beinahe gleichzeitig von Larf.
„Ich mache die Regeln nicht“, sagte die Wache. Doch damit wollten die beiden Kobolde sie nicht davonkommen lassen. Dafür sah Gnulf zu traurig aus.
„Wenn es ein guter Anfang ist, warum reichen drei gute Anfänge dann nicht? Das ist mehr als manch andere mitbringen. Und Gnulf hat sich mit der Frage sicherlich mehr beschäftigt als die meisten.“
Die Wache nickte. „Aber ist es ein gutes Zeichen, wenn er sich so sehr damit beschäftigen muss, und doch den Weihnachtsgedanken nicht findet, während andere ihn ohne zu überlegen im Herzen tragen?“
Prenna wurde nachdenklich, aber Larf ließ sich so leicht nicht beirren. „Etwas im Herzen zu tragen, weil es nun mal da ist, das ist leicht. Sich um etwas zu bemühen, was nicht einfach da ist, nicht aufgeben, weitersuchen, auch wenn es schwerfällt, das hat doch auch einen Wert“, schimpfte er auf die Wache.
Aber Gnulf legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Lass gut sein, Larf. Sie macht die Regeln nicht. Ich bin sicher, sie würde auch lieber alle wieder nach Hause lassen, die nach Hause wollen. Andere wegschicken zu müssen macht sicher keinen Spaß.“
„Warum macht sie es dann?“, fragte Prenna.
„Weil das ihre Aufgabe ist“, sagte Gnulf.
„Kannst du sie nicht einfach bitten, uns trotzdem rein zu lassen? Es ist echt kalt“, meinte Prenna.
Gnulf dachte einen Moment nach. „Vielleicht kann ich das.“
„Mach dir nicht zu viele Hoffnungen“, warnte die Wache. „Mein Spielraum ist begrenzt.“
„Kann man zu viel Hoffnung haben?“, fragte Gnulf und lächelte. „Außerdem bitte ich dich nicht, die Regeln zu biegen. Ich darf nicht nach Hause, das ist klar. Aber niemand hat gesagt, dass Prenna und Larf nicht in die Werkstatt dürfen. Sie sind nicht verbannt.“
Die Wache nickte. „Das ist richtig.“
„Aber allein gehen wir nicht!“, rief Larf.
„Das steht euch frei“, sagte die Wache.
„Es ist niemandem geholfen, wenn wir alle frieren“, meinte Gnulf. „Geht ihr schon einmal vor. Ich komme irgendwann nach.“
Larf zögerte. „Alleine traue ich mich nicht. Ich kenn da doch niemanden.“
„Du kennst mich“, meinte Prenna.
„Und meine Eltern werden sich freuen, euch zu sehen und von mir zu hören“, ergänzte Gnulf. Er griff in seine Tasche und holte die geschnitzte Lokomotive heraus. „Gebt die meiner Mutter. Dann weiß sie, dass ihr mich getroffen habt.“
„Trotzdem“, beharrte Prenna. „Liebe ehrenwerte Wache, kannst du Gnulf nicht bitte doch nach Hause lassen?“
„Erst, wenn er den Weihnachtsgedanken gefunden hat.“
„Lass gut sein, Prenna. Ich werde den Weihnachtsgedanken finden. Wärmt ihr euch erst einmal auf und wir treffen uns – wenn ihr noch wollt – dann im nächsten Ort wieder. Da war eine Gaststätte, in der ich warten kann.“ Seine Stimme wurde leiser. „Ihr müsst aber nicht, es ist ja schließlich meine Suche …“
Prenna und Larf trafen Gnulf etwa gleichzeitig mit ihren Schneebällen. „Klar kommen wir wieder mit. Allein bist du doch aufgeschmissen“, meinte Larf.
„Aber vorher sehen wir uns diese Werkstatt an, damit wir wissen, ob sich die Mühe auch lohnt. Außerdem sorgt deine Mutter sich bestimmt schon um dich. Ich würde mich sorgen, wenn ich dächte, du wärst allein unterwegs“, feixte Prenna.
Gnulf schluckte. „Danke. Ich habe euch nicht verdient. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich es auch nicht verdient, schon nach Hause zu kommen. Ich habe noch einiges über Weihnachten zu lernen. Für mich war es immer selbstverständlich, dass es Weihnachten gibt. Aber hier in der Welt ist das nicht so. Da muss man etwas dafür tun.
Weihnachten passiert nicht einfach, nur weil es die passende Zeit im Jahr ist. Weihnachten passiert, weil Menschen sich darauf einlassen.
Weil sie den Mut finden zu hoffen. Weil sie das Mitgefühl finden, zu geben. Und weil sie das Vertrauen haben, auch etwas anzunehmen. Was manchmal viel schwerer ist, weil man dafür zugeben muss, dass man es allein eben nicht schafft.“
Die Wache lächelte: „Jetzt hast du an der richtigen Stelle gesucht.“
Gnulf war verdutzt. „Aber ich bin doch nirgendwo hingegangen?“
„Du musstest nirgendwo hingehen. Du musstest nur in deinem Herzen suchen. Da, wo alle ihre eigenen Weihnachtsgedanken tragen. Willkommen zu Hause.“
Danach
Und damit hatte der kleine Kobold es doch tatsächlich geschafft und durfte wieder in die Weihnachtsmannwerkstatt und seinen Freunden sein zuhause zeigen.
Falls jemand wissen will, ob er dann Spielzeugmacher geworden ist, das kann ich beantworten. Ist er nicht. Er ist auch nicht für immer in der Werkstatt am Nordpol geblieben. Gnulf, Prenna und Larf sind noch oft in die Welt gezogen, um anderen dabei zu helfen, ihren ganz eigenen Weihnachtsgedanken zu finden.
Denn manchmal braucht es einen kleinen Kobold, um wieder auf das eigene Herz zu hören. Oder ein Eichhörnchen. Aber das ist gar nicht so ein großer Unterschied.