1. Warum sich selbst verletzen?

Vor vielen Jahren fragte mich eine Freundin: „Warum hast du dich dazu entschieden, dich zu ritzen?“ Die Frage hat mich überrascht. Es war ja nicht so, dass ich eines Morgens aufgewacht bin und mir gedacht habe: „Hey, wie wäre es, wenn ich mich heute mit einem Rasiermesser hinsetze und schaue, ob es mich glücklich macht, mir Schmerzen zuzufügen?“

Es war nie eine bewusste Entscheidung.

Für mich kam erst der Schmerz, dann das Ritzen.

Anders sein

Anders zu sein ist nicht so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wir alle sind anders als andere Menschen. Manche dieser Unterschiede werden bewundert, wie zum Beispiel besondere Talente. Manche Unterschiede werden als mehr oder weniger normal angesehen, wie Hand- und Schuhgrößen. Manche Unterschiede sind verpönt, manche tragen ein soziales Stigma, wegen mancher werden Menschen diskriminiert.

Als ich jung war, wusste ich nicht, dass einige meiner Eigenheiten zu den weniger akzeptierten gehören. Dazu erzähle ich mal von meinem jüngeren Ich.

Meine Familie war in den Ferien oft an FKK-Stränden. Ich wuchs mit dem Gefühl auf, dass es normal ist, nackte Körper zu sehen. Ich wuchs auch mit dem Wissen auf, dass die Leute mich oft für einen Jungen hielten, ich habe keine Ahnung, warum. Das geschah sowohl vor Buchhandlungen als auch an FKK-Stränden.

Später, in der Grundschule, spielte ich beim Sport in der Jungenmannschaft mit. Ich erinnere mich an die Empörung, als ich einmal mit lackierten Nägeln zur Schule kam und meine Klassenkameraden alle sagten: „Was? Du bist ein Mädchen?!“ Ich meine, ich benutzte die Mädchentoilette und den Mädchenumkleideraum, und alle wussten, dass ich äußerlich ein Mädchen war. Aber ich spielte mit Action-Figuren statt mit Puppen, und wenn ich meine Hausaufgaben nicht machte, gab ich das zu, ohne Ausreden zu erfinden. Ich war schamlos ich selbst. Ich brauchte keine Bestätigung von außen und schämte mich nicht dafür, wer ich war. Das waren Eigenschaften, die damals oft eher bei Jungen vorkamen.

Als die Jungen in der Grundschule wissen wollten, wie Mädchen “untenrum” aussehen, habe ich es ihnen gezeigt. Nicht hinter verschlossenen Türen, sondern auf dem Schulhof. Warum auch nicht? Nackte Körper waren natürlich. Es waren die anderen Mädchen, die mir sagten, das sei unmoralisch und schlecht. Ich musste ihnen versprechen, so etwas nie wieder zu tun.

Mit 10 Jahren kam ich aufs Gymnasium, mit neuen Lehrerinnen und Lehrern und teilweise neuen Kindern in der Klasse. Ich galt als seltsam. “Anders”. Ich war verwirrt. Die Pubertät kam. Es wurde schlimmer. Die anderen in meiner Klasse nannten mich Zwitter. Monster. Freak. Ich kann immer noch sehen und fühlen, wie die Kinder, die ein Jahr jünger waren als ich, mich auf dem Schulhof bedrängten und schrien: „Daniela Schmidt ist ein Monster!“ Ich erinnere mich noch, dass es als Mutprobe galt, in der Pause zu mir zu kommen und mich zu ohrfeigen. Ich wurde ein soziales Risiko. Niemand wollte mit mir zusammen gesehen werden. Es könnte abfärben.

Warum haben sie gerade auf mir herumgehackt? Wer weiß das schon. Ich war eher klein, ich war blass, ich hatte einen dicken Po und Akne, ich trug keine Markenklamotten, ich hielt mich nicht an die aktuellen Modetrends und verlor mit der Pubertät mein Selbstbewusstsein. Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Das alles machte mich zu einem leichten Ziel. Kinder können grausam sein, und das waren sie auch.

Ich tat so, als würde ich die Ohrfeigen nicht spüren. Die Sticheleien nicht hören. Ich hoffte, dass sie sich langweilen und aufhören würden, wenn ich keine Reaktion zeigte. Das ist es schließlich, was einem die Eltern immer sagen. Sie strengten sich mehr an. Ich versuchte, noch weniger zu fühlen, während sich die ganze Zeit über der verdrängte Schmerz in mir anstaute.

Der Umgang mit dem Schmerz

Da war also eine ganze Menge angestauter Schmerz in mir, den ich nicht zulassen konnte. Da war dieser Schmerz, den niemand sehen konnte, niemand sehen durfte. Schmerz, der nicht wirklich da war, weil ich ihn wegschob, und der doch nicht verschwand. Und natürlich sind das die Worte, die ich jetzt finde, nicht die, die ich damals hatte. Damals tat es mir einfach so weh, dass ich nicht einmal weinen konnte.

Ich war gut in der Schule, was nicht half, denn nun galt ich auch noch als Streberin. Um dem Spießrutenlauf auf dem Schulhof zu entgehen, schlich ich mich in den Pausen allein durch die Gänge. Ich hatte das Gefühl, mit niemandem über etwas irgendwas reden zu können.

Ich fand Gefallen an Friedhöfen, vielleicht weil sie ruhig sind und es nur wenige Kinder gab, die mich hätten verspotten können. Vielleicht lag es daran, dass ich oft an den Tod und das Sterben dachte. Ich begann, sehr schlechte Gedichte darüber zu schreiben, dass ich sterben, dass ich nichts mehr fühlen, dass ich wollte, dass alles vorbei wäre. Zu Sterben, das klang wie ein ersehnter Ausweg. Eine Atempause.

Ich weiß nicht genau, wie es angefangen hat. Ich habe mir früher dauernd Zecken eingefangen. Ich war vielleicht 12 oder 13, als ich von einer Zecke lediglich den Körper abgerissen hatte und der Kopf noch in meinem Bein steckte. Das ist nun 35 Jahre her, und ich hatte gehört, dass die Köpfe der Zecken irgendwie überleben und über den Blutkreislauf ins Gehirn gelangen würden, wo sie sich dann ins Gehirn verbeißen und Borreliose verursachen konnten. Ich weiß, ich weiß. Aber das war es, was ich damals geglaubt habe.

Es war also wichtig, den Kopf rauszubekommen.

Ich setzte mich also mit einem Taschenmesser hin und versuchte, den Kopf herauszupulen. Ich musste ein bisschen stochern. Überraschenderweise tat es gar nicht richtig weh. Ich war hochkonzentriert, mein Kopf war ausnahmsweise mal frei von Fragen, Vorwürfen und spottenden Stimmen. Es gab nur noch mich und das Messer. Es war friedlich.

Das nächste Mal war es ein Splitter, der zu tief in der Haut abgebrochen war, um ihn mit einer Pinzette oder einer Nadel zu erreichen, also grub ich ihn aus und hatte dabei das gleiche Erlebnis. Hyperfokus auf die Aufgabe. Kein Chaos im Kopf. Nur Frieden. Irgendein Teil von mir stellte die Verbindung her.

Von da an brauchte ich keinen Grund mehr. Wenn es zu schlimm wurde, schnitt ich mich. Nicht, dass ich mich hingesetzt und dann gesagt hätte: „Hey, wenn du dich schneidest, geht es dir besser“.

In der Schule schnitten wir Zwiebeln, um die Zellen unter dem Mikroskop zu untersuchen. Ich hatte also eine Packung Rasierklingen in meinem Mäppchen. Ich packte eine aus, um zu sehen, ob sie noch scharf genug für den Unterricht war. Ich war mir nicht sicher, ob die Klinge scharf genug war, also prüfte ich, ob sie in Papier noch saubere Kanten schneiden konnte. Aber wir würden kein Papier schneiden, sondern Zwiebeln. Also habe ich es an meiner Haut ausprobiert. Zumindest ist das die Geschichte, die ich mir damals erzählt habe, und die ich mir auch glaubte. Dass der Teil in mir, der die Verbindung zwischen selbst zugefügtem Schmerz und innerer Ruhe hergestellt hatte, die Entscheidungen traf – das habe ich erst später erkannt.

Bald schnitt ich mich, ohne so zu tun, als würde ich die Klinge prüfen. Immer an Stellen, wo man es nicht sehen würde. Oder ich erweiterte Schürfwunden, die ich bereits hatte. Ich war ein Kind, gerade mal Teenager. Es gab ein Waldstück in der Nähe, wo ich mir Schnitte und Schürfwunden zuhauf aneignete. Manchmal reichte es, den Schorf kontrolliert aufzukratzen. Und jedes Mal passierte das Gleiche. Die Welt um mich herum rückte in den Hintergrund und in mir wurde es still.

Heute weiß ich, dass es verschiedene Aspekte waren, die dazu führten.

  1. Der Hyperfokus drängte alles andere in den Hintergrund.
  2. Es war Schmerz, aber es war ein Schmerz, den ich kontrollieren konnte, im Gegensatz zu dem Schmerz, der mir von anderen zugefügt wurde.
  3. Meine inneren Wunden wurden sichtbar und der Schmerz hatte somit endlich ein Ventil.

Aber: Selbstverletzung bringt keine Heilung.

Ich weiß, dass es für viele Menschen noch andere Gründe gibt, die teilweise unter „Ergänzungen von Anderen“ kommen. Aber zuerst erzähle ich von meinen eigenen Erfahrungen.

Extremer Fokus

Meine Gedanken und meine Gefühle waren und sind immer “voll”. Mein Kopf versucht, auf alles zu hören und auf jedes Detail zu achten, um Gefahren auch aus unerwarteter Richtung schnell erkennen zu können.

Außerdem befanden sich verschiedene Gedanken in einer Art ständigem Schreikampf. Jede Kritik von anderen, jeder Fehler, den ich machte, wurde hervorgeholt und diskutiert. Jeder Makel, den ich jemals an mir fand, wurde untersucht.

Ich fühlte mich zugleich verletzt, schuldig, einsam, hoffnungslos, wütend (auch wenn ich das damals nicht wusste), ängstlich, schwach, nicht gut genug, nicht klug genug, nicht hübsch genug, nicht genug, nicht genug, nicht genug.

Mich selbst zu verletzen war ein bewusster Akt extremer Konzentration. Meine Gedanken konzentrierten sich nur auf die Rasierklinge in meiner Hand, auf das Gefühl, die Haut zu durchtrennen, auf die Einschätzung des genauen Drucks, der nötig war, um Blut hervortreten zu lassen, wobei ich darauf achtete, mir nicht in die Finger zu schneiden. Schließlich wollte ich mir nicht aus Versehen weh tun, so seltsam das auch klingen mag.

Alles andere war für diese Zeit weit weg.

Ich erlebte in dem Moment einen Seelenfrieden, eine Ruhe und Stille, die ich sonst nicht erreichen konnte.

Das Ritzen gab mir einen sicheren Ort, einen Anker, an dem ich mich festhalten konnte, wenn die Selbstvorwürfe und der innere Schmerz über mir zusammenschlugen und ich Gefahr lief, mich ganz darin zu verlieren. Allerdings natürlich zu einem Preis. Verdrängung ist keine Bewältigung und ich habe mich damit nur mehr in mich zurückgezogen.

Den Schmerz kontrollieren

So viel Schmerz wurde mir von anderen zugefügt. Der Spott, die Ausgrenzung, die Einsamkeit, die Beleidigungen, all das hat mich getroffen, und ich konnte nichts dagegen tun oder mich wehren.

Der Schmerz war ein ständiger Begleiter, und ich hatte ihn mir nicht ausgesucht. Er wurde mir aufgezwungen.

Eine Klinge auf die eigene Haut zu setzen, das war etwas anderes. Es war meine Entscheidung.

Es gab mir das Gefühl, die Kontrolle zu haben, die Macht zu haben, obwohl ich in Wirklichkeit völlig hilflos war. Ich habe mich also nur über meine Machtlosigkeit hinweggetäuscht. Deswegen habe ich sie auch nicht als das eigentliche Problem erkannt und versucht, daran zu arbeiten, statt mich zu verletzten.

Vielleicht reichte es schon, dass nicht alle Schmerzen, die ich empfand, mir von anderen zugefügt wurden. Vielleicht dachte ich, dass, wenn ich mich selbst freiwillig verletze, nichts gegen Schmerzen einzuwenden sei und andere mich nicht schlechter behandelten als ich mich selbst, so dass es irgendwie in Ordnung war.

Obwohl ich alles andere als in Ordnung war.

Den Schmerz sichtbar machen

Ich war gerade mal Teenager, als ich anfing, mich zu ritzen. Ich glaube, ich konnte einfach nicht verstehen, wie unsichtbare Verletzungen so weh tun konnten. Ich hatte auch keine Ahnung, wie ich mit diesem unsichtbaren Schmerz umgehen sollte.

Schnitte konnte ich sehen und verstehen.

Und ich hatte das Gefühl, dass jedes Mal ein Teil des Schmerzes mit dem Blut aus mir herausgespült wurde. Was im Nachhinein Sinn macht. Blut war etwas Greifbares. Zu sehen, wie es aufsteigt und an meinen Armen oder Beinen heruntertropft, half mir, einen Teil des Schmerzes loszulassen, der in mir war.

Wie bei diesen Atemübungen, bei denen man Klarheit und Kraft einatmet und Wut oder Panik oder was auch immer einen bedrückt, ausatmet. Das funktioniert über die Visualisierung. Und ich glaube, das Gleiche passierte, wenn ich mein Blut fließen sah. Ich stellte mir vor, wie der Schmerz mich verließ.

Ein Teil des inneren Drucks fiel ab und ich fühlte mich ruhiger.

Eine Atemübung hätte hier wahrscheinlich sogar den gleichen Effekt gehabt – da ich ja aber nicht bewusst nach einem Weg, den inneren Druck abzubauen, gesucht hatte, sondern über einen gestolpert war, war mir das gar nicht in den Sinn gekommen. Schade. Meinem jüngeren selbst kann ich das nicht mehr sagen, aber vielleicht hilft es dir.

Und ich konnte sehen, dass Schnitte heilen. Ich hatte Glück, denn einige hinterließen nur schwache Narben, viele waren so schmal, ganz feine Linien, mit einer Rasierklinge gezogen, dass sie verheilten, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie brauchten nicht tief zu sein. Sie reichten aus, um die Haut zu öffnen.

Die Beobachtung dieser Schnitte zeigte mir, dass es möglich war, sich von der Verletzung zu erholen. Dass es möglich war, wieder ganz zu werden. Schmerzfrei. Das gab mir Hoffnung.

Jede der wenigen Narben, die nach 20 Jahren noch sichtbar sind, denn so alt ist meine jüngste, erinnert mich an diese Hoffnung.

Ich kann heilen.

Aber: Selbstverletzung bringt keine Heilung

Bevor jetzt jemand denkt „das klingt ja prima, das mache ich auch“: Keines meiner Probleme wurde durch Selbstverletzungen gelöst oder kleiner. Ich wurde dadurch nicht weniger gemobbt, die Beleidigungen haben mich nicht weniger verletzt, ich war nicht weniger allein und hatte auch nicht mehr Selbstvertrauen. Ich habe diese Probleme und diesen Schmerz stattdessen noch jahrelang mit mir herumgetragen.

Echte Heilung braucht Zeit und Unterstützung durch andere. Ob das vertraute Menschen sind, oder Bücher, oder eine Therapie, das hängt von jeder Person selbst ab. Die zugrunde liegenden Probleme werden sonst nur verschleppt, die „Haut“ darüber vernarbt und die Heilung wird nur schwerer, je mehr Zeit vergeht.

Es ging nie darum, mir weh zu tun

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass es nie darum ging, mich zu verletzen. Es ging nie darum, mich für irgendetwas zu bestrafen.

Es war ein verzweifelter Akt, etwas zu greifbar zu machen, was ich nicht be-greifen konnte, ein Versuch, eine Art Kontrolle über meine Gefühle zurückzuerlangen. Beides kommt aus dem Wunsch, nicht zu verletzen, sondern zu heilen.

Vielleicht macht ein anderes Beispiel das noch deutlicher.

Einmal habe ich mich nicht in die Arme oder Beine geritzt, sondern dünne Schnitte über meinen Oberkörper gezogen. Einen Schnitt entlang der unteren linken Kurve des Brustkorbs, in der Vorstellung, mir durch diese Öffnung mein Herz herauszureißen. Einen entlang der Seite, ungefähr in der Nähe der Nieren, um das Gift aus meinen Gedanken zu ziehen. Einen dort, wo ich die Gebärmutter vermutete, um diesen Körper weniger weiblich zu machen.

Das stellte sich schnell als Fehler heraus. Die Wunden taten unheimlich weh, da sie bei jeder Bewegung zusammengeschoben oder auseinandergezogen wurden. Der Oberkörper ist ein sehr bewegliches Ding und jede Bewegung ließ mich die Schnitte spüren.

Ich hatte keine Kontrolle über diesen Schmerz und mir war klar, dass es nicht das war, was ich wollte. Ich hatte keine Lust auf Schmerzen. Ich habe es sofort und stetig bereut und nie wieder versucht.

Ergänzungen aus zweiter Hand

Ich weiß, dass andere Menschen andere Gründe haben, sich selbst zu verletzen. Die Gründe für Selbstverletzungen sind wohl so vielfältig wie die Menschen selbst. Aus meinen Gesprächen mit anderen Betroffenen kann ich vor allem diese nennen:

Hilfeschrei

Für manche Menschen ist Selbstverletzung ein Weg, den Schmerz nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere sichtbar zu machen. Es ist ein Signal: „Ich leide. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich brauche Hilfe!“

Oftmals ist das Signal sehr gemischt. Manche versuchen mehr oder weniger erfolgreich, die Wunden und Narben zu verdecken. Wenn man sie fragt, kann die Antwort lauten: „Es ist nichts“ oder „Das geht dich nichts an/geh weg“.

Das kann bedeuten: „Ich bin nicht bereit zu reden“ oder „Mir fehlen die Worte“ oder „Ich vertraue dir (noch) nicht“ oder „Ich glaube nicht, dass du es wirklich wissen willst, frag weiter“ oder „Bitte gib mir einen Grund, mich zu öffnen“ oder „Geh weg“, um einige Beispiele zu nennen.

Das ist nicht besonders hilfreich, aber aus Sicht der Person verständlich. Vielleicht glaubt sie, keine Hilfe zu verdienen und schiebt deshalb andere Menschen weg. Oder sie weiß noch nicht, wie sie darüber sprechen soll, oder befürchtet, dass alles, was sie sagt, dazu benutzt wird, sie weiter zu verletzen. Vielleicht will sie auch wirklich darüber sprechen, aber keine Last sein? Dann muss sie überzeugt werden, dass es jemand wirklich hören will. Oder etwas ganz anderes.

Wenn du dich hier wiederfindest: Du verdienst Hilfe. Wenn du nicht mit Freunden oder Familie sprechen kannst, ruf eine Hotline an. Bitte. Wenn du nicht glaubst, es ginge dir schlecht genug, um Hilfe zu verdienen, dann glaube ich das für uns beide. Es ist schlimm genug. Und Du verdienst Hilfe.

Während ich dies schreibe, wird mir klar, dass auch ich Hilfe gebraucht hätte. Es ist mir nur nicht als Option in den Sinn gekommen. Bitte, sei nicht wie ich.

Sich selbst bestrafen

Wenn dir alle sagen – oder du das Gefühl hat, dass alle sagen -, dass du nicht dazugehörst, dass du irgendwie falsch bist, nicht genug bist, dann fängst du vielleicht an, das zu glauben. Schließlich bist du selbst ja nur eine Person, und alle anderen sind sich einig. Vielleicht liegst du also falsch? Und wenn du hart genug zu dir selbst bist, dann besserst du dich vielleicht? Also bestrafst du dich, so wie es alle anderen tun.

Oder vielleicht lässt dich der Stress, unter dem du stehst, wirklich einen Fehler machen. Und die Leute, die dir Vorwürfe machen, haben einen Grund mehr, dich zu verspotten. Dann wirst du vielleicht wütend auf dich selbst. Und vielleicht bestrafst du dich dann, indem du dich verletzt.

Was ist mit Manipulation?

Ich habe Menschen getroffen, die meinen, dass manche Menschen sich selbst verletzen, um andere zu manipulieren, damit sie tun, was sie wollen. Es hieß „Wenn der Starke den Schwachen verletzen will, verletzt er ihn. Wenn der Schwache den Starken verletzen will, verletzt er sich selbst“.

Das ist ein schwieriger Punkt, denn hier gilt es zu unterscheiden:

Verletzt sich eine Person in oder nach einer Situation selbst, um irgendwie mit dieser Situation klarzukommen, oder droht jemand damit, sich selbst zu verletzten, um ein gewünschtes Verhalten beim Gegenüber zu erzwingen?

In ersten Fall ist Selbstverletzung der Versuch, in einer Situation, in der sich jemand hilflos fühlt, die Kontrolle zurückzugewinnen.

Es ist die Tat einer Person, die sich unsicher, hilflos, verletzlich, machtlos und völlig ausgeliefert fühlt. Es ist die Tat einer Person, die verzweifelt nach einer Möglichkeit sucht, eine andere Wahl zu haben, als sich unterzuordnen.

Um sich so zu fühlen, wurde diese Person übergangen, mit Füßen getreten, erniedrigt und “entwertet”, immer und immer wieder.

Es ist der letzte Ausweg für eine Person, die Angst hat, die leidet und keinen anderen Ausweg sieht. Ein letztes Flehen, gehört zu werden. In dieser Situation geht es nicht um Manipulation, es geht ums Überleben.

Die Frage sollte nicht lauten: „Ist das Manipulation?“, sondern: „Was kann getan werden, um dieser Person das Gefühl zu geben, dass sie sich nicht selbst verletzen muss, um als Person mit Rechten und Bedürfnissen angesehen zu werden? Was kann getan werden, um zu helfen?“

Wenn eine Selbstverletzung bewusst angedroht wird, liegt die Sache meist etwas anders. Darauf will ich im nächsten Abschnitt eingehen.

Abgrenzung zur Androhung von Selbstverletzung

Es fällt mir sehr schwer diesen Absatz zu schreiben, da er Vorurteile bestärken kann, aber er ist sehr wichtig.

Nehmen wir an, jemand droht in einer Beziehung (freundschaftlich, familiär, beruflich oder in einer Partnerschaft) damit, sich selbst zu verletzen oder gar damit, sich umzubringen, wenn die andere Person in der Beziehung nicht das von der ersten Person gewünschte Verhalten zeigt.

Auch hier liegen persönliche Probleme dem Verhalten zu Grunde. Auch hier ist wahrscheinlich zunächst wichtig, die aktuelle Situation zu entspannen.

Danach ist es aber vor allem wichtig, dass die bedrohte Person sich abgrenzt und selbst schützt. Es ist mir passiert, dass jemand sagte „wenn du mich verlässt bringe ich mich um“. Ich war damals 16 oder 17, fühlte mich enorm unter Druck gesetzt und vielleicht auch ein bisschen geschmeichelt. Rückblickend war das Erpressung.

Ich hatte und habe keine Ahnung, wie ernst die Drohung gemeint war. Ich fühlte mich überfordert.

Ähnlich liegt es, wenn jemand sich nach einem Streit schneidet und etwas sagt wie „siehst du, wie sehr du mich verletzt hast?“, denn das beinhaltet die unterschwellige Drohung „wenn wir wieder streiten, verletze ich mich wieder“. Oder wenn jemand sagt „entweder, wir gehen heute zusammen in den Zoo oder ich tue mir etwas an.“

Wenn ich so etwas heute wieder erleben würde, würde ich anders damit umgehen als früher. Wahrscheinlich würde ich, je nach Situation, diese Schritte unternehmen:

  • zunächst tief durchatmen und mir klar machen, dass ich nicht für die Taten der anderen Person verantwortlich bin,
  • wenn eine unmittelbare Gefahr droht, dass die Drohung hier und jetzt umgesetzt wird, den Notruf wählen und eventuell versuchen, die Situation entspannen,
  • wenn möglich danach ein Gespräch darüber führen, dass eine Beziehung nicht auf Erpressung beruhen kann,
  • wenn möglich die andere Person dafür sensibilisieren, sich Hilfe zu holen und ihr dabei gegebenenfalls Unterstützung anbieten,
  • wenn dabei rauskommt, dass die Drohung nicht ernst gemeint war, sondern nur ein Trick, dann wäre ich zwar wütend, doch wenn sich das nicht wiederholt, würde ich es wahrscheinlich verzeihen können. Wenn es dennoch öfter vorkommt, dann war es entweder kein Trick oder der anderen Person ist es schlichtweg egal, wie ich mich in der Situation fühle. Spätestens dann ist Zeit, mich zurückzuziehen.
  • mir gut überlegen, ob ich mich ganz aus der Beziehung zurückziehen muss oder ob ich der Person zur Seite stehen kann, während sie das zugrunde liegende Problem bewältigt. Dabei ist es wichtig, professionelle Hilfe zu haben, um das Problem gezielt anzugehen. Ich bin keine Ärztin oder Therapeutin, ich kann auf diesem Weg nicht die Verantwortung für die andere Person übernehmen.

Es ist unfassbar schwer, sich von einer Person zu distanzieren, die einem am Herzen liegt und die einen so offensichtlich braucht. Und es ist auch unfassbar wichtig, sich selbst zu schützen um nicht an Angst, Schuldgefühlen und Druck zu zerbrechen.

Und was, wenn ich mich zu meinem eigenen Schutz zurückziehe und die Person sich dann etwas antut?

Dann muss ich mich daran erinnern, dass ich nicht für ihre Taten verantwortlich bin. Ich kann nicht mehr tun, als zu versuchen, im Rahmen meiner Möglichkeiten zu helfen. Und manchmal reichen meine Möglichkeiten vielleicht nicht aus. Manchen Dingen stehe ich selbst machtlos gegenüber. Das ist schwer zu akzeptieren und die Frage „Hätte ich nicht vielleicht doch …?“ würde mich noch lange verfolgen. Vielleicht brauche dann ich Hilfe, um zu erkennen, dass es nichts gab, was ich hätte tun können und um mir selbst zu verzeihen.

Ich wünsche allen, die sich in einer solchen Situation wiederfinden, mindestens diese drei Dinge:

  • den Mut, auf sich selbst zu achten,
  • die Güte, nicht mit Aggression zu reagieren und
  • die Kraft, das umzusetzen, was sie sich vorgenommen haben, sei es eine Trennung oder eine Begleitung der anderen Person auf dem Weg der Heilung.

Und wenn sich jemand entschieden hat, die andere Person zu unterstützen, und merkt, dass das zu viel wird, dann ist es erlaubt, von dieser Entscheidung zurückzutreten. Achtet auf euch selbst und verlangt euch nur das ab, was ihr auch leisten könnt und wollt.

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