3. Was tun, wenn du Selbstverletzungen bemerkst?

Die beiden vorangegangenen Teile meines Berichtes waren hauptsächlich auf mich bezogen. „Schreibe, was du weißt“, heißt es.

Dieser dritte Teil richtet sich hingegen direkt an alle, die meine Worte lesen. Bevor ich damit beginne, sei kurz gesagt: Ich bin keine Psychiaterin, Psychologin oder Therapeutin. Ich bin weder Ärztin noch Anwältin. Ich bin ein Mensch mit persönlichen Erfahrungen, der aus dieser Perspektive spricht. Ich kann keine rechtlichen oder medizinischen Ratschläge geben. Was ich jedoch tun kann, ist, von meinen Erfahrungen zu erzählen und davon, was mir meiner Meinung nach geholfen hätte. Vielleicht ist das ein guter Ausgangspunkt.

An alle, sie sich selbst verletzen oder verletzt haben

Wenn beim Lesen der Gedanke aufkam: „Das mache ich auch“ oder „Das mache ich nicht, aber etwas Vergleichbares“, ist es gut möglich, dass du dich selbst nicht so gut behandelst, wie du es verdienst.

Ohne dich zu kennen oder irgendetwas über dich zu wissen kann ich sagen: “Du hast etwas besseres verdient.”

Ich weiß, wie es ist, sich unvollkommen, falsch und verkorkst zu fühlen. Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass ich weder Schmerz noch Missachtung verdiene, sondern Unterstützung und eine Chance auf Heilung.

Was kannst du tun?

Such dir bitte Hilfe. Je nachdem, was es ist, solltest du professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn du dich ritzt, verbrennst oder vernachlässigst: ruf eine Hotline an oder such psychiatrische, psychologische oder therapeutische Beratung. Besser jetzt als später. Du verdienst Hilfe. Wenn es sich „nur“ um schlechte Angewohnheiten handelt: Hol dir Hilfe. Eine Hotline, Eltern, liebe Menschen, Selbsthilfegruppen, eine Online-Community, was immer in Reichweite ist. Fang irgendwo an.

Du verdienst Hilfe.

Was hat mir geholfen?

Zunächst musste ich mir eingestehen, dass die Dinge nicht von allein besser werden. Ich musste zugeben, dass ich Hilfe brauche. Und ich musste erkennen, dass ich Hilfe verdiene. Ich habe eine Therapie gemacht und werde weitere beantragen, denn einige Dinge brauchen regelmäßige Aufmerksamkeit. Mein Psychiater und ich haben verschiedene Medikamente ausprobiert, bis wir etwas gefunden haben, das mir erlaubt, ich selbst zu sein, während es die Depression lindert.

Ich habe gelernt, (öfter) ehrlich zu mir selbst zu sein, und hart daran gearbeitet, zu akzeptieren, dass ich geliebt werde.

Ich habe gelernt, mir zu verzeihen, dass ich nicht perfekt bin.

Ich habe gelernt, dass es nicht meine Schuld ist, dass ich so bin, wie ich bin, und dass ich mich besser fühlen kann.

Was, wenn andere sich selbst verletzen?

Das Wichtigste ist, der betreffenden Person keine Vorwürfe zu machen und niemandem Schuldgefühle dafür zu machen, wie sie versuchen, zu bewältigen, was immer zu bewältigen ist. Niemand wählt diesen Weg aus dem Gefühl, dass einfacher wäre, oder cooler oder gar lustiger.

Die Menschen geraten auf diesen Weg, weil sie das Gefühl haben, keinen anderen Ausweg mehr zu haben.

Was kann getan werden?

Das hängt von der jeweiligen Beziehung zu der Person und von der rechtlichen Situation ab.

Mach deutlich, dass du eine “sichere Person” bist.

Beziehe aktiv und klar Stellung gegen Mobbing, Mikroaggressionen oder irgendeine andere Form der Diskriminierung.

Teile Informationen über Hilfestellen auf Augenhöhe, nicht belehrend oder herablassend.

Falls du rechtlich dazu verpflichtet bist: Informiere je nach Rechtslage die Eltern oder Erziehungsberechtigten oder eine Behörde. Das ist vielleicht nicht angenehm oder einfach, und es könnte auch die Beziehung zu der betroffenen Person beeinträchtigen. Das Wohlergehen der betroffenen Person ist aber wichtiger als die Frage, ob du in ihren Augen als cool dastehst.

Wenn dir jemand etwas bedeutet, dann riskierst du, dass diese Person sauer auf dich ist, wenn das dazu führt, dass sie die Hilfe bekommt, die sie braucht.

Sofern du keine psychiatrische oder therapeutische Ausbildung und Zulassung hast: versuche nicht diesen Platz einzunehmen. Sei eine Vertrauensperson, ein Kummerkasten, eine Schulter, Teil des sozialen Netzes. Du kannst keine medizinischen Ratschläge geben.

Was hätte mir geholfen?

Das ist eine gute Frage.

Es hätte mir geholfen, wenn jemand auf meiner Seite gewesen wäre. Nicht in dem Sinne, dass jemand den Mobbern gesagt hätte, sie sollen mich arme Kleine in Ruhe lassen, denn dann hätte ich mich wahrscheinlich nur noch schlechter gefühlt.

Aber jemand, der es wagte, sich mit mir zu zeigen. Jemand, der sich traut, mich wie einen Menschen zu behandeln. Jemand, der keine Angst vor den anderen hat.

Wenn ich zum Beispiel in der Schule etwas angefasst habe, wie einen Stuhl aus dem Weg zu schieben, wischte die nächste Person die Stelle, das ich berührte, erst mit einem Ärmel oder so ab, bevor sie den Stuhl benutze. Niemand fand das albern. Niemand kam rüber und legte mir die Hand auf den Arm oder so, ohne Angst vor Ansteckung. Einmal sagte mir eine Mitschülerin heimlich, dass ich mich gegen die Mobber wehren müsse. Aber auch sie hatte zu viel Angst, das laut in der Öffentlichkeit zu sagen. Es gab niemanden, der auf meiner Seite stand.

Vielleicht hätte es mir geholfen, wenn sich jemand glaubhaft dafür interessiert hätte, wie ich mich fühle, und mir Raum dazu gegeben hätte, dieser Frage nachzugehen.

Ich hatte nie das Gefühl, mit meinen Eltern darüber reden zu können und versteckte die Spuren meiner Selbstverletzung. Bei meiner blassen Haut war es später schwer, die nur wenig blasseren Narben zu erkennen. Wenn ich mich gerade erst geritzt hatte, trug ich entweder lange Ärmel oder, wenn die Schnitte in der Nähe des Handgelenks waren, einen Verband und sagte, ich sei gestürzt und hätte mich am Handgelenk verletzt und würde den Verband zur Stabilisierung nutzen. Da ich gelegentlich ungeschickt war, war das glaubhaft. Ich wollte meine Familie nicht mit meinen Problemen belasten. Wenn sich jemand mit mir hingesetzt hätte, nur wir beide, zwei Tassen Tee und die Frage „Wie geht es dir, Liebes?“, vielleicht mit „Ich erinnere mich, dass die Schule hart sein kann“, hätte ich mich vielleicht ein bisschen öffnen können, aber ich bin mir nicht sicher.

Einmal habe ich aus Versehen meine sehr schlechten Gedichte über den Wunsch zu sterben offen auf dem Küchentisch liegen lassen. Meine Mutter und meine Schwester fanden es und lasen es gerade, als ich hereinkam. Ich erinnere mich, dass ich erschrak und mich schämte. Ich tat ganz cool, leugnete jede persönlichen Bedeutung der Gedichte und floh langsam in mein Zimmer. Vielleicht wäre eine halbe Stunde später ein guter Zeitpunkt für ein Gespräch gewesen. Aber damals war ich schon echt gut darin, meine Gefühle zu verbergen und Sorgen wegzulachen, also war ich vielleicht zu überzeugend für mein eigenes Wohl.

Es hätte mir auf jeden Fall geholfen, wenn wir eine Gesellschaft hätten, in der alle sie selbst sein können und nicht nach einer imaginären Blaupause beurteilt würde, wie wer zu sein hat.

Bis wir so weit sind müssen wir tun, was wir können, um aufeinander aufzupassen. Und wir brauchen Raum, um darüber zu sprechen, wie wir uns fühlen. Ohne Angst, dafür verurteilt zu werden, wie wir damit umgehen.

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