Rose

Warnhinweise: Erwähnt werden ein Stich in den Finger, ein Fluch und natürlicher Tod

Rose trug den letzten Eimer Wasser von der Pumpe in ihre Küche und wünschte sich einmal mehr, sie hätte noch ihre alte Spindel zur Hand, um sich in den Finger zu stechen und tausend Jahre lang zu schlafen. Oder vielleicht nur die siebenhundertsechsundachtzig, die ihr vom letzten Mal noch geblieben waren. Sie war müde nach einem langen Leben.

Längst war sie aus dem Schloss ausgezogen, hatte Thron, Bälle und Politik der nächsten Generation überlassen. Jetzt lebte sie allein, eine Witwe, in einem schnuckeligen Häuschen am Waldrand, in Ruhe und Frieden. „Manchmal zu viel Ruhe“, dachte sie gerade, als es plötzlich an der Tür klopfte.

Eine schmale, ältere Dame stand da, einen Hut in der Hand, in einem Kleid, das Rose an ihre Jugend erinnerte.

„Du erinnerst dich vielleicht nicht an mich“, sagte die blasse, gebrechliche Dame, „aber ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen, da ich dir großes Leid zugefügt habe.“ Rose bat sie herein, denn das klang nach einer Angelegenheit, die man am besten beim Tee besprechen sollte. Und Keksen.

Es stellte sich heraus, dass es sich bei dem Gast um die Fee handelte, die Rose vor so vielen Jahren verflucht und die Spindel verzaubert hatte, gerade so, als hätte Rose sie mit ihren Gedanken herbeigerufen.

„Ich weiß, dass ich damals überreagiert habe. Ich wusste es, kaum dass Fluch ausgesprochen war, aber wie das so ist, einmal ausgesprochen, konnte ich ihn nicht mehr rückgängig machen. Ich habe jetzt ein Alter erreicht, in dem Scham und Stolz weniger wichtig sind als die Dinge zu sagen, die gesagt werden müssen, solange noch Zeit dafür ist, also wollte ich dir nur sagen, dass es mir leid tut, auch wenn das nichts ändert.“

Rose reichte ihr noch einen Keks und lächelte, wobei sich die Falten um ihre blauen Augen vertieften.

„Ohne deinen Fluch hätte ich vielleicht nie meine wahre Liebe getroffen, hätte nicht meine wunderbaren Kinder und dieses erfüllte Leben gehabt. Ich hänge nicht dem nach, was hätte sein können. Was geschehen ist, ist geschehen, und wenn ich sehe, was aus mir geworden ist, kann ich dir nicht böse sein, dass du mich hierher gebracht hast.“

Die alte Fee wäre gerührt gewesen, doch dafür war ihr Inneres zu hart. So war sie nur fasziniert, und sie unterhielten sich den ganzen Nachmittag, bis die Kekse gegessen und die zweite Kanne Tee geleert war. Da Rose dies als angenehme Abwechslung empfand, lud sie die Fee ein, irgendwann einmal wiederzukommen.
Und sie kam zurück, und das mehr als einmal, obwohl sie darauf achtete, zwischen den Besuchen Zeit zu lassen.

Es wurde bald klar, dass keine der beiden Frauen noch viele Freundinnen hatte, und eine Art angenehme Gewohnheit kam auf. Als die Fee fragte, womit Rose sich gerne die Zeit vertrieb, seufzte diese. „Früher habe ich mit Perlen gestickt, aber leider sind meine Augen nicht mehr das, was sie einmal waren. Also häkle ich ein bisschen, aber das hat nicht den gleichen Reiz.“

Die Fee wünschte, sie hätte noch alle ihre Kräfte, aber die Zeit hatte auch an ihnen gezehrt. Dennoch konnte sie nicht anders, als zu denken, dass sie helfen wollte. Nicht, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, sondern weil Rose so nett war und die Fee wollte, dass sie glücklich wurde.

Als sie sich das nächste Mal trafen, brachte die Fee eine Linse aus Glas mit, ein modernes Gerät, das kleine Dinge größer erscheinen ließ. Gemeinsam versuchten sie, eine Möglichkeit zu finden, diese Linse an dem Tisch anzubringen, damit Rose die Hände frei hatte, aber es wollte nicht gelingen. Die Fee nahm die Linse wieder mit und versprach, sich etwas einfallen zu lassen.

Als sie so dasaß und nachdachte und die Linse anstarrte, hatte sie eine Idee, und bevor sie es sich anders überlegen konnte, machte sie sich an die Arbeit. Ihre Kräfte waren zwar verblasst, aber noch nicht ganz verschwunden, also konnte sie es vielleicht schaffen.

Sie nahm die Schärfe ihrer Worte und schnitt die Linse entzwei.

Sie nahm die Glut ihres Stolzes, erweichte das Glas und brachte es in Form.

Sie nahm die eisernen Bänder von ihrem Herzens und formte daraus einen Rahmen.

Als sie Rose das nächste Mal besuchte, bot sie ihr die gerahmten Linsen an, die sie auf ihre Nase setzen konnte, damit sie die Hände zum Perlensticken frei hatte.
Die Fee war unsicher, als sie das Geschenk überreichte, denn sie hatte all ihren Schutz dafür aufgegeben und fühlte sich sehr entblößt und scheu. Doch als Rose die Brille anprobierte, strahlte ihr Lächeln eine solche Wärme und Freude aus, dass es die Fee umhüllte und sie sicherer hielt als jede Rüstung es je könnte.

Bald darauf hörte die Fee auf, Rose zu besuchen, aber nur, weil sie zusammenzogen. Rose lehrte sie das Perlensticken und das Vertrauen, und die Fee brachte ihren Segen mit.

Sie verlebten ihre Tage als Freundinnen, und als Rose eines Wintertages starb, lag der gerade fertiggestellte Perlenanhänger einer Fee auf einer Rose immer noch auf dem Tisch, und es gab keine Spur von ihrer Freundin, außer dass alle Rosen im Garten in voller Blüte standen und jedes Jahr an diesem Tag weiterblühten, solange es Menschen gab, die solche Dinge bemerkten, und noch eine ganze Weile länger.

(c) Daniela Schmidt
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