Die Schatzsuche

Warnhinweis: Glasscherben, Erbstreitigkeiten

Vorsicht, zerbrechlich

„Manche Leute haben Weihnachtsbaumschmuck, der zusammenpasst“, murmelte ich leise, aber offenbar nicht leise genug. Ich sollte es eigentlich auch besser wissen, meine Mutter hörte alles.

Auch das, was ich dachte.

„Es geht nicht darum, ob der Schmuck zusammenpasst. Unser Baumschmuck hat Charakter. Und eine Geschichte.“

Ich seufzte. Nicht jede Geschichte war auch eine schöne Geschichte.

„Wenn er dir nicht gefällt, dann lass Lisa den Baum alleine zu Ende schmücken“, sagte meine Mutter. Und Lisa griff nach der Kugel, die ich in der Hand hatte.

„Du machst das sowieso nicht richtig“, sagte sie dabei.

„Mach ich wohl.“

„Machst du nicht.“

Es kam wie es kommen musste und die Kugel fiel runter. Auch nicht einfach so runter, sondern schon in einem kleinen Bogen. Das kommt davon, wenn man um etwas streitet. Sie landete mit einem vernehmlichen Knacksen auf dem Boden.

„Ups“, meinte Lisa kleinlaut.

Ich schwieg.

„Kinder,“ fing Mutter an, „ihr wollt doch, dass ich mich freue, wenn ihr Weihnachten nach Hause kommt, oder?“

Wir nickten betreten.

„Und da sagen die anderen immer, Kinder würden so schnell erwachsen. Ihr beide lasst euch damit ganz schön Zeit.“

„Tut uns leid“, sagte Lisa.

„Ehrlich“, meinte ich.

Mutter seufzte einmal kurz und schüttelte den Kopf. „Wenigstens muss ich mir jetzt nicht mehr überlegen, wem von euch beiden ich die letzte Kugel von Onkel Klaus einmal vererbe.“

„Die Kugel war von Onkel Klaus?“

„Wir hatten davon mehr als eine?“, fragten wir durcheinander.

Und: „Was ist mit den anderen Kugeln passiert?“

„Ich mach mir jetzt erst einmal einen Tee und dann erzähle ich euch von Onkel Klaus und seinen Weihnachtskugeln. Und ihr,“ sie blickte uns streng an, „fegt so lange den Boden. Ich will nicht, dass noch jemand in einen Glassplitter tritt.“

Keine zehn Minuten später saßen wir erwartungsvoll am Tisch, hatten zwei kleine Glassplitter aufgefegt, den Baum klammheimlich fertig geschmückt und uns die Hände gewaschen. Das letzte war wohl eher ein Reflex: Bevor man sich bei den Eltern an den Tisch setzt, werden die Hände gewaschen.

Zeit für Geschichte

Mutter setzte sich mit ihrem Tee zu uns und guckte schon nicht mehr ganz so streng.

„Ihr erinnert euch vielleicht nicht mehr an Onkel Klaus, aber früher war er öfter hier.“

Lisa und ich warfen uns einen Blick zu und schmunzelten. Wir erinnerten uns an Onkel Klaus. Er war immer für einen Spaß zu haben und nahm danach auch noch die Schuld auf sich, wenn unsere Eltern das nicht so lustig fanden. Onkel Klaus war prima gewesen.

„Onkel Klaus war nicht gerade das, was man einen bürgerlichen Geist nennt. Er hatte, soweit ich weiß, keine Wohnung länger als zwei Monate. Er war ständig unterwegs.“

Wir nickten.

Onkel Klaus war der Einzige gewesen, dem wir nicht jedes Jahr eine Geburtstagskarte schreiben mussten, weil wir manchmal einfach nicht wussten, wohin. Dafür hatte er uns immer Karten aus den entlegensten Winkeln geschickt.

Und Onkel Klaus hatte immer tolle Sachen von seinen vielen Reisen mitgebracht und die abenteuerlichsten Geschichten erzählt. Manche davon waren vielleicht sogar wirklich genauso passiert. Bei Onkel Klaus war fast alles möglich. Gewesen.

„Wie hat er das eigentlich bezahlt?“, fragte Lisa.

Früher hatten wir uns darüber nie Gedanken gemacht, aber mit der ersten eigenen Wohnung war jedem von uns klar geworden, wie viel Zeit, Mühe und Geld ein nettes Heim mit regelmäßigen Mahlzeiten machte. Leben war teuer, auch ohne Reisen.

Mutter lächelte.

„Das weiß keiner so ganz genau. Klaus hatte mindestens so viele Jobs wie Wohnungen. Er hat sich immer irgendwie durchgeschlagen. Als Fremdenführer, der gutgläubigen Touristen die wildesten Geschichten auftischte, als Aushilfskellner auf Kreuzfahrtschiffen, als Entwicklungshelfer in Afrika, Klaus hat so ziemlich alles gemacht, was man machen kann.“

„Aber braucht man für solche Sachen keine Qualifikationen?“, fragte ich. Ich hatte mein Studium mit Nebenjobs finanziert und war erstaunt gewesen, was man alles nachweisen können musste.

„Das war damals noch eine andere Zeit“, sagte Mutter. „In der Entwicklungshilfe war man froh über jeden, der mit anpackte. Man musste kein gelernter Handwerker oder Ingenieur sein, geschickte Hände reichten völlig. Und die hatte Klaus. Und in vielen Fällen hat er die Leute einfach mit seinem Charme überredet. Und er wird sicher nicht immer allein gewohnt haben.“ Dabei zwinkerte sie uns zu. Auch darüber hatten wir früher nie nachgedacht.

„Dabei hat er natürlich auch ständig neue Sachen gelernt. Drechseln, Zimmern, Schnitzen und sogar Glas blasen.“

Lisa und ich sahen auf die angeknackste Weihnachtsbaumkugel.

„Du meinst, die hat er selbst gemacht?“, fragte Lisa, sehr kleinlaut.

Mutter nickte. „Die und ein paar andere Sachen, die Eiszapfen aus Glas sind auch von ihm, also ist jetzt nicht das letzte Andenken zerstört.“ Sie blickte Lisa aufmunternd an. „Und um ehrlich zu sein, ich habe auf diesen Moment gewartet.“

„Warum?“, fragten Lisa und ich gleichzeitig.

„Nun“, meinte Mutter, „weil in der anderen Kugel etwas versteckt gewesen war. Und ich bin ziemlich gespannt, ob in dieser hier auch etwas ist.“

Blick ins Innere

„Du bist also nicht sauer?“, fragte ich.

„Ein bisschen schon, denn ihr solltet wirklich vorsichtiger mit den Sachen umgehen. Aber im Moment bin ich eher neugierig als ärgerlich.“

„Sollen wir sie dann ganz zerbrechen?“, fragte Lisa.

Mutter nickte nach einem kurzen Zögern.

Ganz vorsichtig begann Lisa, an der Kugel herumzuwerkeln.

Das Glas sollte zwar zerbrechen, aber sie wollte sich nicht schneiden und nicht das kaputt machen, was sich vielleicht im Innern der Kugel befand. Ich musste mich ganz schön beherrschen, ihr die Kugel nicht wegzunehmen, um das selbst zu machen. Aber so lange hielt die Lehre, dass beim Zanken Dinge kaputt gehen können, dann doch an, selbst bei mir.

Nach viel zu langer Zeit war das Loch endlich groß genug, um das, was man schon erahnen konnte, auch endlich aus der Kugel herausbekam.

Es war ein kleiner hölzerner Würfel, der durch ein paar Glas-Streben im Innern der Kugel festgehalten worden war. Mutter nickte aufgeregt: „Genauso einer war auch in der anderen Kugel!“

Ich guckte zum Baum rüber. Und tatsächlich, da sah ich ihn.

„Den hängen wir doch jedes Jahr mit auf!“, quietschte Lisa. Lisa rannte schnell zum Baum, um den zweiten Würfel zu holen.

„Und ich habe mich schon gefragt, warum der in der Weihnachtskiste liegt“, meinte ich.

Besonders weihnachtlich sah der Würfel nicht aus. Aber hübsch. Und auch nicht unweihnachtlicher als das Zeug, das manch anderer sich an den Baum hängte.

Bekannte von uns schmückten ihren Baum mit silbrig-glänzendem Obst und Gemüse. Oder mit selbst gefilzten Engelsfiguren. Gut, die waren weihnachtlich, sahen aber nicht so schlicht und trotzdem kunstfertig aus, wie der Würfel. Aus verschiedenen Sorten Holz zusammengefügt hatte er hellere und dunklere, rötlichere und gelblichere Stellen.

„Und was ist das jetzt?“, fragte Lisa.

„Ich habe keine Ahnung“, meine Mutter. „Ich habe nie rausgefunden, was es mit dem Würfel auf sich hat.“

„Muss es denn etwas damit auf sich haben?“, fragte ich.

Lisa sah mich vorwurfsvoll an. „Wer macht sich denn die Mühe, sowas in einer Weihnachtsbaumkugel zu verstecken, wenn es damit nichts auf sich hat?“

„Vielleicht sollte die Kugel nur etwas schwerer werden?“, meinte ich, „Schließlich gibt es nicht überall verborgene Geheimnisse und Rätsel.“

„Du bist so fantasielos.“ Aus Lisas Mund klang das abwertend.

„Wenn es dich nicht interessiert, dann findet Lisa das bestimmt allein raus“, meinte Mutter und legte den zweiten Würfel vor meine Schwester. Lisa griff danach.

„Ach Quatsch, Schwesterchen. Allein schaffst du das doch nie“, sagte ich und nahm mir einen der Würfel. Meine Mutter schmunzelte und mir wurde klar, dass ich auf einen Klassiker hereingefallen war. Gab es eine Schule, wo Mütter lernten, ihre Kinder auszutricksen?

Zeit für Geschichten

Auf jeden Fall blieb mir jetzt nichts anderes übrig, als das Geheimnis vor Lisa zu lüften. Sonst stünde ich ganz schön blöd da. Es dauerte fast drei Tage unermüdlichen Nachdenkens, bis ich zugeben musste, dass ich allein nicht weiterkam. Lisa hatte zum Glück auch noch keinen Geistesblitz gehabt. So saßen wir also gemeinsam in der Küche, die Würfel auf dem Tisch, und begannen, die Reste des Weihnachtsessens zu vernichten.

„Es muss doch irgendeinen Hinweis geben!“ In den Kartoffeln war er nicht versteckt, sonst hätte ich ihn inzwischen gefunden.

In den Resten der Füllung von der Weihnachtsgans war er offensichtlich auch nicht, sonst hätte Lisa das erwähnt.

„Vielleicht in einer seiner Geschichten?“ Die Idee war nicht abwegiger als andere, die wir schon gehabt hatten.

„Aber in welcher?“ Ich drehte einen Würfel zwischen den Fingern hin und her. „Die mit dem Krokodil können wir ausschließen.“

„Und die mit der Kanufahrt?“, meinte Lisa. Wir dachten nach.

„Wir hätten auf ihn hören sollen“, meinte ich.

„Was meinst du?“

„Naja“, ich zuckte mit den Schultern „Hat er nicht immer gesagt ‚Passt gut auf und merkt euch, was jetzt kommt‘?“

Lisa runzelte die Stirn. „Das hat er nicht immer gesagt. Nur immer in derselben Geschichte.“

Sie hatte Recht! Verdammt.

„Und immer an derselben Stelle!“ Ich triumphierte – aber nicht lange. „Weißt du noch, wie die Stelle ging?“

Wir hatten uns inzwischen an fast alles erinnert. Wie Onkel Klaus die Stimme verstellt hatte, wie er im Zimmer auf und ab stolziert war und wie er sich dann zu uns gekniet hatte, um im verschwörerischen Flüsterton zu sagen – woran wir uns nicht mehr erinnerten.

„Es war irgendwas mit Fischen“, meinte Lisa. An Fische konnte ich mich gar nicht erinnern.

Am Neujahrsmorgen stand Lisa um halb vier bei mir vor dem Bett und schüttelte mich. Es war an Silvester spät geworden, so wie sich das gehört, und ich wollte ausschlafen, bevor ich mich wieder auf den Heimweg machte. So nett es bei unseren Eltern war, ich wollte auch wieder Heim und dort noch etwas Zeit für mich haben, bevor die Arbeit wieder los ging. Naja, nicht nur für mich. Meine Freundin wollte jetzt auch von ihren Eltern zurück sein. Wir wollten unsere Beziehung noch nicht mit gemeinsamen Familienbesuchen belasten.

Lisa hielt offensichtlich nichts vom Ausschlafen. Sie kniete sich vor mein Bett, blickte verschwörerisch nach links und rechts und flüsterte dann:

„Kiesel liegen hell im Sand
nimm nicht einen in die Hand!
Greif sie alle mit Geschick,
Kiesel klappern klick, klick, klick.“

Ich starrte sie an. „Was?“

Lisa kicherte. „Werd‘ mal richtig wach, Bruderherz. Wonach suchen wir denn die ganze Zeit?“

Es dämmerte mir. Ihr war die Stelle aus der Geschichte eingefallen.

„Und jetzt?“, fragte ich, noch etwas schläfrig.

„Wenn ich das wüsste, glaubst du, ich hätte dich dann geweckt?“

„Warum weckst du mich denn, wenn du es nicht weißt?“ Manchmal verstand ich sie einfach nicht.

Lisa guckte mich mit ihrem Unschuldslammblick an. „Ich dachte, dir fällt dazu vielleicht was ein …“

Ich holte meinen Würfel unter dem Kopfkissen hervor. Lisa hielt mir ihren hin.

„Hmmm“, sagte ich.

„Was?“, fragte Lisa. Ich nahm beide Würfel in die Hand. Sie klickten aneinander. Nichts passierte.

„War einen Versuch wert“, meinte sie.

„Und was hatte das jetzt mit Fischen zu tun?“, fragte ich. Lisa zuckte mit den Schultern. „Nichts. Ich habe mich eben geirrt.“ Aber ich war zu sehr mit dem Rätsel beschäftigt, um mich wirklich darüber zu freuen, dass sie das zugab. Außerdem war es zu früh am Morgen für Schadenfreude.

„Wenn die Kiesel jetzt für die hellen Hölzer stehen und man alle hellen Holzteile gleichzeitig eindrücken muss?“

Lisa lachte. „Du siehst zu viele Filme!“

„Aber versuchen können wir es mal, oder?“

Lisa drehte die Würfel hin und her.

„Die Holzstückchen sind viel zu klein, um sie mit den Fingern eindrücken zu können.“

Ich wollte den Gedanken noch nicht aufgeben. „Deswegen ja auch ‚mit Geschick‘. Hast du irgendwo Zahnstocher?“

Nach einigem Suchen kam Lisa mit einer Packung Wattestäbchen aus dem Bad wieder. „Die müssten passen.“

Ich schüttelte den Kopf. In einem Film würde man das Geheimnis nie mit Wattestäbchen lösen, aber im echten Leben musste man wohl nehmen, was da war.

Es dauerte eine Weile, bis wir heraushatten, wie man den Würfel halten muss, um an alle Stellen dranzukommen. Und man brauchte definitiv mehr als zwei Hände dafür. Zwei Mal fiel der Würfel unters Bett, bevor wir es endlich geschafft hatten. Das war zwei Mal mehr, als ich unter meinem Bett nach irgendetwas hätte suchen wollen.

Was hatte ich denn da noch alles an Zeug liegen? Und warum hatte Mutter das noch nicht längst weggeworfen?

Aber dann klappte es endlich – und zu unserem beiderseitigen Erstaunen machte es „Klick“.

Neue Rätsel

„Jetzt sind wir nicht schlauer als vorher“, sagte Lisa, nicht ganz ohne Grund. Wir hatten es zwar geschafft, beide Würfel zu öffnen, aber darin war nur jeweils ein gefaltetes Stück Stoff mit Buchstaben darauf. Leider waren diese nicht in einer Art angeordnet, die Sinn ergab, sondern in zufällig aussehender Reihenfolge auf 6 x 6 Feldern.

„Vielleicht muss man alle Teile haben und in der richtigen Reihenfolge nebeneinanderlegen, damit es einen Sinn ergibt?“

Die Idee war nicht schlecht, hatte aber einen Haken.

„Mutter hat gesagt, sie hätte nur diese zwei Kugeln von Onkel Klaus.“

„Wir sollten sie trotzdem fragen. Aber erst nach dem Ausschlafen, Schwesterherz.“ Ein paar Stunden später saßen wir also mit unseren Eltern am Frühstückstisch.

„Sind das wirklich die beiden einzigen Kugeln gewesen?“, fragte Lisa, nachdem wir unseren Fund stolz vorgezeigt hatten.

„Es waren die beiden einzigen, die wir hatten“, meinte Mutter. Vater sah betont interessiert auf seine Zeitung.

„Könnte also noch jemand welche von den Kugeln haben?“, wollte ich wissen. Nach einem Seitenblick zu ihrem zeitunglesenden Gatten nickte Mutter.

„Wer?“

Vater stand auf und ging.

Mutter seufzte.

„Euer Onkel Klaus hatte drei Geschwister, ihr erinnert euch vielleicht noch an Hanna und Karl?“

„Schon, aber von denen haben wir ewig nichts gehört“, meinte Lisa.

„Seit kurz nach dem Tod der Mutter eures Vaters, wenn man es genau nimmt.“ Es schien Mutter nicht leicht zu fallen, darüber zu sprechen.

„Warum haben wir seitdem eigentlich nichts mehr von ihnen gehört?“

„Nach dem Tod eurer Großmutter gab es, sagen wir, Unstimmigkeiten. Es war weniger Geld da, als eigentlich hätte da sein sollen, und ein paar ihrer schönsten Schmuckstücke fehlten, unter anderem ihre Lieblingskette.“

Sie hielt kurz inne. „Es hat sich alles aufgeklärt, aber bis es so weit war, waren Dinge gesagt worden, die man nicht wieder zurücknehmen kann. Der Einzige, der sich aus all dem herausgehalten hatte, war Onkel Klaus gewesen. Er wollte ohnehin nichts von dem Erbe. Das machte ihn bei einigen anderen natürlich sofort verdächtig. Und als sich die Aufregung gelegt hatte, war außer Klaus keiner mehr bereit, mit seinen anderen Geschwistern zu sprechen.“

„Wo waren die Sachen denn gewesen?“, fragte Lisa.

„Großmutter hatte ein paar Sachen zum Juwelier gegeben, um sie umarbeiten zu lassen. Sie wollte, dass jedes Kind einen gleichen Teil von ihren Lieblingssachen bekam, damit es keinen Streit gibt.“ Sie lachte humorlos.

„Das hat ja dann nicht so funktioniert. Und das Geld war weg, weil sie die Arbeit schon bezahlt hatte.“ Es dauerte eine halbe Tasse Kaffee, bis Mutter weitererzählte.

„Der Juwelier brachte die fertigen Stücke zwei Wochen nach Großmutters Tod ins Altenheim. So haben wir dann davon erfahren. Wir haben uns noch einmal alle getroffen, damit jeder sein Päckchen bekommt, aber gesprochen hat euer Vater seitdem nur noch mit Onkel Klaus. Und ich kann von den Sachen nichts tragen, weil er mich dann immer so vorwurfsvoll ansieht, als würde ich ihn mit Absicht daran erinnern.“ Sie blickte sich auf dem Tisch um.

„Aber ich könnte mir vorstellen, dass euer Onkel Klaus jedem seiner Geschwister zwei Weihnachtsbaumkugeln hinterlassen hat.“

„Aber das ist ja großartig“, rief Lisa. „Dann müssen wir die ja nur fragen, ob sie auch kleine Würfel gefunden haben!“

Irgendwie wirkte Mutter wenig begeistert. „Darin könnte ein Problem bestehen. Wisst ihr, wir haben keinen Kontakt mehr zu den Geschwistern eures Vaters. Wahrscheinlich haben wir nicht einmal eine aktuelle Adresse.“

Aber davon wollte Lisa nicht hören. „Im Informationszeitalter ist niemand unauffindbar!“ Also zogen wir mit den Namen und den alten Adressen bewaffnet los, jeder in Richtung der eigenen vier Wände.

Suchen und Finden

Das Informationszeitalter ist nicht das, was es zu sein scheint. Theoretisch hat man zwar auf gigantische Datenmengen Zugriff, aber in all diesen Daten das zu finden, wonach man sucht, kostet Zeit. Und am Ende teilten Lisa und ich uns dann die Telefonnummern auf, die anzurufen waren, auf der Suche nach den verschollenen Verwandten.

Und so, wie am Ende des Urlaubs der Alltag wieder einkehrt, so bleiben auch Dinge liegen und es dauerte fast zwei Monate, bis ich mit meiner Liste durch war. Mit gemischtem Erfolg.

Ich hatte Tante Hanna ausfindig gemacht, aber erst gegen Ende der Liste. Und erstaunlich wenige Leute freuen sich über einen Anruf, der anfängt mit „Sind Sie vielleicht meine Tante?“.

Und Tante Hanna war auch nur bedingt begeistert von meinen Anruf gewesen.

„Ist dein Vater tot?“

„Nein.“

„Ist er todkrank?“

„Nein.“

„Warum rufst du dann an?“

Es geht doch nichts über einen entspannten Einstieg in ein Gespräch.

Aber wenigstens hatte sie die Weihnachtsbaumkugeln von Onkel Klaus noch. Und sie war bereit, sie zur Verfügung zu stellen – aber nur, wenn ihre Tochter Helga mit dabei war, wenn die Würfel darin geöffnet und entschlüsselt wurden.

„Falls es am Ende doch einen Schatz gibt. Wäre nicht das erste Mal, dass in dieser Familie jemand die anderen übervorteilt.“

Lisa brauchte noch ein paar Wochen länger. Sie hatte zwar Onkel Karl gefunden, aber der hatte die Kugeln nicht mehr. Er hatte sie seinen Kindern mitgegeben, als sie zu Hause ausgezogen waren. Und die Kinder aufzutreiben war etwas schwieriger. Onkel Karl wollte nicht die Telefonnummern an irgendwen herausgeben, den er nicht kennt. Lisa hatte ihm ihre Nummer dagelassen, damit seine Kinder, Lara und Anne, sie erreichen konnten.

Lara meldete sich dann auch eines Abends und war sofort begeistert dabei. Und sie versprach, Anne auch für die Sache zu gewinnen. Wir verabredeten uns alle zu Ostern, in einem Hotel, sozusagen auf neutralem Gebiet.

Es war eine kleine Ewigkeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Lisa und ich waren ganz schön aufgeregt. Ob die anderen sich sehr verändert hatten? In zehn Jahren kann eine ganze Menge passieren.

Wir saßen also gemütlich in der Lobby und warteten.

Und zuckten jedes Mal zusammen, wenn die Tür sich öffnete.

Als dann endlich Anne und Lara reinkamen, war es, als sei die Zeit gerade zurückgedreht worden.

Quietschend fiel Lara Lisa in die Arme und Anne verdrehte die Augen. „Lisa und Lara“ waren früher schon berüchtigt gewesen. Anne und ich teilten das Schicksal der älteren Geschwister: „Passt ihr mal gerade auf die beiden auf?“ Als ob das immer so einfach gewesen wäre.

„Wie hältst du es nur mit der aus?“, fragte ich.

„Danke, und selbst?“, meinte Anne.

„Also alles wie immer?“, meldete Helga sich zu Wort.

Anne und ich wären vor Schreck fast umgefallen.

Bei dem Lärm, den Lara und Lisa machten, hatten wir sie nicht kommen gehört.

Nach dem großen Hallo des Wiedersehens brachten wir uns gegenseitig schnell auf den letzten Stand des jeweiligen Lebens. Lara war verlobt und wollte mit ihrem zukünftigen Mann nach Köln ziehen. „Er hat da ein Wahnsinnsangebot bekommen, da mussten wir einfach zuschlagen.“

Anne hatte Spürsinn bewiesen und ihre Lehre als Floristin aufgegeben und Erzieherin gelernt. „Erzieherinnen sind momentan erheblich gefragter als Floristinnen. Es ist zwar nichts zum Reich werden, aber mit nervigen Kindern umgehen, darin habe ich ja Übung.“

Lara stieß sie in die Seite. „Was soll das denn heißen?“

Es war, als hätten wir uns nie aus den Augen verloren.

Aber damals waren wir so zwischen elf und fünfzehn gewesen, da bleibt man aus eigenem Antrieb nicht in Kontakt, wenn die Familien sich nicht sehen und man nicht im gleichen Ort wohnt.

Heute tauschten wir einfach unsere E-Mail-Adressen aus. In der Hinsicht war die Welt wirklich etwas kleiner geworden.

Mehr Geschichten

Es wurde ganz schön spät, bis wir zum eigentlichen Anlass unseres Treffens kamen.

„Wenn wir die hellen Teile eindrücken, passiert gar nichts“, sagte Helga, nicht zum ersten Mal und drehte den Würfel, den Lara und Anne mitgebracht hatten, in der Hand.

„Aber in der Geschichte ging es um helle Kiesel“, sagte Lisa.

„Was für eine Geschichte?“, fragte Lara.

„Na die von Onkel Klaus, wo er immer gesagt hat ‚Passt gut auf und merkt euch, was jetzt kommt‘, die von dem Einsiedler.“

Helga schüttelte den Kopf. „Onkel Klaus hat das zwar gesagt, aber nicht in einer Geschichte von einem Einsiedler. Es ging um eine Amazonenprinzessin.“

Lisa lehnte sich gespannt vor. „Und wie ging die Stelle genau?“

„Was weiß ich“, sagte Helga. „Weißt du, wie lange das her ist?“

„Bei uns ging es um eine Geschichtenerzählerin und ihr Pferd“, meinte Anne.

„Schwarze Hufe, Klipp und Klapp –“ begann Lara, und Anne sagte „geht es schnell voran im Trab.“

„Doch bist du mir nicht gewogen.“

„Stemmst du die Hufe in den Boden.“

„Und das größte Glück der Erde liegt dann unter deinem Pferde“, endeten sie lachend gemeinsam.

„Also müsst ihr die schwarzen Stücke drücken, richtig?“, fragte Helga.

Und tatsächlich, es gab das erhoffte „Klick“ und der Würfel öffnete sich.

Nach diesem Erfolg opferten Lara und Anne kurzerhand auch die Kugel, die noch nicht zerbrochen war, und öffneten den darin liegenden Würfel.

Jetzt hatten wir vier Felder mit Buchstaben.

Lisa versuchte, diese Stücke auf die eine oder andere Weise nebeneinander oder untereinander anzuordnen, aber es kam einfach nichts Gescheites dabei heraus.

„Dann fehlen uns noch deine beiden“, meinte Anne zu Helga.

Helga war die einzige, bei der noch beide Glaskugeln ganz waren. Es fiel ihr sichtlich schwer, sie zu opfern, zumal es ja auch noch völlig unklar war, ob wir jemals schlau aus dem werden würden, was Onkel Klaus uns da hinterlassen hatte.

Mit einiger Überwindung schlug sie die erste Kugel an die Tischkante. Sie war sichtlich erleichtert, darin auch einen Würfel zu finden.

„Und, ist dir eingefallen, was Onkel Klaus an der Stelle immer gesagt hat?“ Helga grübelte.

„Ich glaube schon“, meinte sie dann.

„Keins von euch ist wie die andern,
Einsam müsst ihr vorwärts wandern,
Bis der Schlüssel ist gefunden,‘
Der sich dreht so viele Runden.“

Sie guckte etwas unsicher drein. „Und was muss ich jetzt drücken?“

Es dauerte etwas, bis wir darauf kamen. Helga musste jeweils die Stücke eindrücken, die auf jedem dem Würfel nur einmal vorkamen.

Im Inneren des Würfels war aber kein Schlüssel, sondern nur ein weiteres Gitter mit Buchstaben. Etwas entschlossener zerbrach sie die zweite Kugel und öffnete den zweiten Würfel.

Darin lag auch wieder ein Stoffquadrat, allerdings mit Löchern.

„Ist das unser Schlüssel?“, fragte Lisa.

„Klar“, sagte Helga begeistert. „Das ist eine Fleißnersche Schablone!“

Wenn Helga hier anerkennendes „Oh“ oder „Aha“ erwartet hatte, dann wurde sie von uns enttäuscht. Das Schweigen wurde langsam etwas peinlich, bis Helga die Augen rollte.

„Vielleicht kennt ihr es eher als Sandorf Schablone?“, fragte sie erwartungsvoll. Wieder betretenes Schweigen, und Helga seufzte: „Liest denn keiner von euch Jules Verne?“ Helga erklärte uns Ahnungslosen das Verfahren schnell und auch nur ein bisschen oberlehrerhaft.

Da sie die Einzige war, die wusste, was wir damit machen sollten, nahmen wir das gerne in Kauf. Wir waren zu gespannt, um beleidigt zu sein. Schließlich lag die Lösung des Rätsels zum Greifen nah!

„Das ist ein Verschlüsselungsverfahren aus dem späten 19. Jahrhundert. Man legt die Schablone auf den Text und liest die Buchstaben, die sich in den Löchern zeigen. Dann dreht man die Schablone im Uhrzeigersinn und liest wieder die Buchstaben, die in den Löchern stehen. Das macht man dann noch zwei Mal und hat damit alle Buchstaben auf dem Feld gelesen – aber in einer Reihenfolge, die man ohne den Schlüssel nicht, oder nur sehr schwer erraten kann.“

Gebannt sahen wir ihr zu, wie sie das bei ihrem Quadrat vorführte.

Lara griff sich einen Stift und Papier und schrieb mit.

„Liebe Familie ich hoffe ihr habt den alten S“, las sie vor. „Welchen alten S?“, fragte Lisa. „Das werden wir wohl erst mit dem nächsten Quadrat erfahren“, meinte ich, und schob Helga eines rüber.

„nbehaltet – das macht keinen Sinn, wir brauchen ein anderes.“

Der nächste Versuch ergab „gdassihre“, aber dann hatten wir endlich das richtige Buchstaben-Quadrat.

Wir verfolgten aufgeregt jede neue Drehung der Schablone, bis wir endlich den ganzen Text hatten.

Der Schatz

„Liebe Familie
ich hoffe ihr habt den alten Streit jetzt endlich beigelegt aber sonst haettet ihr mein Raetsel kaum loesen koennen‘
Behaltet mich bitte dadurch in Erinnerung dass ihr euch nicht wieder verliert
Klaus“

Vielleicht lag es daran, dass es weit nach Mitternacht war, vielleicht war es auch noch die Wiedersehensfreude, aber diese Nachricht von Klaus, die wir jetzt, Jahre nach seinem Tod in den Weihnachtsbaumkugeln gefunden hatten, ging schon ans Herz.

Anne wischte sich eine Träne aus dem Auge und Lara zog sie deswegen nicht einmal auf.

„Wie hat er die Würfel überhaupt in die Kugeln bekommen?“, fragte ich mich. Anscheinend nicht nur mich.

„Klar, du machst mal wieder die Stimmung kaputt“, warf Lara mir vor.

Wenigstens Helga schlug sich auf meine Seite. „Wollt ihr das etwa nicht wissen?“

Anne und Lara sahen uns verdutzt an. „Hat er euch das nie erzählt?“

„Nein, hat er nicht“, sagte Lisa, fast etwas beleidigt.

„Also uns hat er das vor Jahren erzählt, als er gerade aus Mexiko zurück war“, fing Anne an.

„Was öfter vorgekommen war“, meinte Lara.

Onkel Klaus hatte Mexiko sehr als Reiseziel geschätzt. Aber nicht zum Leben.

„Er hat den Trick von einem alten Glasbläser gelernt“, fing Anne an.

„Na von einem Obstbauern wohl kaum“, warf Helga ungeduldig dazwischen.

„Nur die Ruhe, ich erzähl ja schon! Also man muss dafür ein enormes Geschick haben, sagte Onkel Klaus. Erst macht man eine normale Kugel, und schneidet, solange das Glas noch weich ist, eine Hälfte ab. In diese Hälfte fügt man die Streben und die Würfel ein. Dann schmilzt man den Rand wieder und fügt beide Hälften wieder zusammen.“

„Und das geht?“, fragte ich.

„Irgendwie wird es gehen müssen“, meinte Anne, „sonst säßen wir jetzt nicht hier.“

Und damit hatte sie wohl Recht.

Das Wochenende war viel zu schnell vorbei. Nicht nur, um Onkel Klaus seinen letzten Wunsch zu erfüllen, verabredeten wir, uns jedes Jahr mindestens einmal zu treffen. Und zu unserem ersten weihnachtlichen Treffen brachte Helga jedem eine Ausgabe von „Die Rache des Grafen Sandorf“ von Jules Verne mit. Ich habe es sogar gelesen.

Naja, wenigstens zur Hälfte, den Rest hat Lisa mir erzählt.

Nicht alle unsere Eltern wollten glauben, dass es bei dem vermeintlichen Schatz von Onkel Klaus nicht um die Reichtümer aus seinen vielen Reisen, sondern um so etwas altmodisches wie Versöhnung ging.

Aber Tante Hanna und Onkel Peter begleiteten Helga manchmal, vor allem wenn unsere Eltern auch dabei waren, wenn wir uns einmal um Weihnachten herum trafen: Anne, Helga, Lara, Lisa und ich – das erfolgreiche Team der Schatzsuche.

Mit der Zeit brachte, wer hatte, auch die bessere Hälfte zu den Treffen mit, und noch etwas später dann unsere eigenen Kinder. Und die rollen jedes Mal unverhohlen mit den Augen, wenn wir ihnen die Geschichte erzählen, wie wir uns wieder gefunden haben, mit der Hilfe von unserem, wie wir ihn jetzt schmunzelnd nennen, „Onkel Santa Klaus“.

Nach oben scrollen